Russland im Winter

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Bevor Ihr diesen Bericht lest, empfehle ich Euch meine kleine allgemeine Einführung zu Russland zu lesen: Russland – Ein Land? EIn Kontinent!

 

RUS 2013 - 15.01.2013 Kirov-Kazan (86)

Kirov – Kazan (Tartastan)

Russland im Winter? Was kommt uns da  wohl in den Sinn? Napoleon  vor Moskau 1812? Stalingrad 1942/43? Eisige Kälte, tonnenweise Schnee? Russen, die halbnackt Ski laufen und dabei flohlockend die Wodka-Pulle schwenken, während abenteuerliche Europäer schon im russischen Spätsommer erfroren sind? Naja, so ist es nun auch wieder nicht. Der Sommer kann heiß sein in Russland, der Winter sehr kalt. Es herrscht eben kontinentales Klima vor: die große eurasische Landmasse erhitzt sich und kühlt im Herbst und im Winter extrem ab. Im Landesinnern ist man weit weg von den ausgleichenden Einflüssen der Meere, die uns milde Wintertemperaturen in Mitteleuropa und sogar Skandinavien bescheren. Weite Landesteile sind 6 Monate und mehr gefrohren und das ist es auch, was es in der Vergangenheit scheinbar unmöglich machte, die Bevölkerung ausreichend mit Nahrung zu versorgen. Bis ins letzte Jahrhundert gab es immer wieder Hungersnöte, Tausende verhungerten.

Am Fluß Vjatka im Winter

Am Fluß Vjatka im Winter

Auch heute noch ist das Klima hart und rauh in Russland. -25 Grad heute fühlen sich eben immer noch an wie -25 Grad vor 200 Jahren und die moderne Technik und Thermokleidung mag zwar viele Probleme lösen, aber man sollte den Respekt vor Mutter Natur nicht verlieren. Auch bei uns in Deutschland erfrieren jedes Jahr Menschen, vor allem Obdachlose. Aber auch wenn es nicht so kalt ist: man kann auch bei Plusgraden erfrieren.

Der gleiche Ort, im Sommer

Der gleiche Ort, im Sommer

Der Herbst in Russland ist nicht lang und bedeutet vor allem Eines: die Natur holt sich Ihren Raum zurück. Mit aller Macht. In den Städten mag man das nicht so spüren, aber wenn man sie verläßt, so fühlt man sich plötzlich einsam, schutzlos. Die Wiese, die noch im Sommer so lieblich geblüht hat, ist jetzt eine weiße Wüste, die Bäume ächzen unter der schweren Schneelast und der Atem gefriert einem förmlich in der Kehle.

Es ist anstrengend zu laufen und man hofft, keine Reifenpanne oder Ähnliches zu erleiden, sonst scheint man verloren. Die Mütze und der vor Nase und Mund gezogenen Schal helfen schon, aber der Atem kondensiert und friert anschliessend an  der Inneseite und Eis berührt die Lippen. Mann, wenn ich jetzt einen Bart hätte, also so einen richtigen Bart, dann könnten auch kleine Eiszapfenbabys daran gedeihen und zu schweren Eiszöpfen heranwachsen. Was wäre das für ein tolles Foto!

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Im Januar 2012 bin ich das zweite Mal in Russland. Olgas Familie lebt in Kirow, einer ehemaligen „geheimen Stadt“, von der es viele, v.a. vor und im Ural gab. Zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges und auch noch danach, waren das Zentren der Kriegsindustrie. Waffenschmieden. In Kirov, das manchmal auch Kirow geschrieben wird und mit historischem Namen nach dem Fluß Vjatka/Wjatka benannt wurde, war zunächst unter dem Zar einer von vielen Verbannungsorten gewesen. Wem der Zar gnädig gesonnen war, wurde hierher, run 800 km vor dem Ural, verbannt und nicht nach Sibirien. Später wurde die Stadt nach dem Stalingefährten Sergei Mironowitsch Kirow bennannt. Er war ein hohes Parteimitglied und wurde später von Stalin befördert: nach ganz oben, in den Himmel. Ein Schicksal, das er mit vielen anderen Getreuen Stalins teilen sollte. In seinem Wahn entsorgte „der Stählerne“ auch Parteifreunde. In Kirov wurden –sofern ich weiß- Panzer und Flugzeuge produziert, weit genug entfernt von der Front und aus der Weitreiche der deutschen Bomber.

Knapp 1000 km nordöstlich von Moskau – „in der Nähe von Moskau“ (O-Ton Olga)- ist es somit noch im bevölkerungsreichen westlichen Teil des Riesenreiches. Dennoch ist die Besiedelung eher spärlich: auf einer Fläche von 120.000 qkm (1/3 Deutschlands) leben 1,3 Mio Einwohner (11 Einw./qkm). Das entspricht etwa der Bevölkerung Münchens, aber wenn man diese auf ein Drittel der Fläche Deutschlands verteilt, dann bekommt man eine Vorstellung von den Dimensionen (Deutschland 226 Einw./qkm). Die Gebietshauptstadt Kirov selbst hat ungefähr 470.000 Einwohner bei einer Größe von 760 qkm (Berlin 890 qkm, München 310 qkm), ist also recht groß.

Zugfahrt nach Kirov

Zugfahrt nach Kirov

Nun sitze ich also mit Olga im Zug von Moskau nach Kirov. Insgesamt dauert die Reise von Berlin dorthin ganze 2 Tage: am ersten Tag kann man gemütlich nach Moskau fliegen. Anschliessend nimmt man am Abend den Zug vom Jaroslawski Bahnhof nach Kirow. Der Zug trödelt für deutsche Verhältnisse durch die Weiten des westrussischen Reiches, Durchschnittsgeschwindigkeit um die 80 Studenkilometer. Schneller geht es auf den alten Gleisen nicht. So braucht der Zug durch die tief verschneite Landschaft gut 12 Stunden, manchmal auch 18. Inzwischen gibt es hochmoderne Waggons mit Klimaanlage, Uhr, Radiodudelei. Generell ist es warm in russischen Zügen. Bei knapp +30 Grad (+!) kann einem dann schon einmal etwas komisch in den Beinen werden, sofern man immer noch die Winterklamotten an hat. Aber generell lieben die Russen Gemütlichkeit. Kaum sitzt man im Zug beginnen die ersten sich lockere Trainingsanzüge, zuweil in knalligen Farben, anzuziehen (Cindy aus Marzahn lässt grüßen!). Die Schaffnerin geht durch die Waggons und verteilt Bettwäsche. Diese ist sauber und hygienisch in Folie eingeschweißt. Der Zug bewegt sich und allmählich wird auch die Klimaanlage nach unten korrigiert. Die Schaffnerin geht durch und knippst die Fahrkarten ab, die bereits schon beim Einsteigen zusammen mit dem Paß begutachtet wurden.

Tee und Kaffe werden gegen ein paar Rubel getauscht und anschliessend geht es schon los mit dem Ansturm auf die Toilette. Ein jeder möchte sich fertig machen für die Nacht, sei es um wirklich zu schlafen, Karten zu spielen mit dem Nachbarn, zu reden, oder um gewissen sexuellen Abenteuern nachzugehen. Wie? Hä? Ja, es stimmt. Die Züge sind rollende Dating-Börsen. Zwar sind die Abteile offen und an der anderen Längsseite sind Betten übereinander in Fahrtrichtung orientiert, aber das hindert so manche Reisenden nicht daran, im Schutze der Halbdunkelheit nach ein paar Schnäpsen sich auf die eine oder andere Art und Weise durch Reibung zu erwärmen. Ich schlaf immer gleich ein, sodaß ich bisher keinerlei solcher Aktivitäten beobachtet habe, und warm genug war mir allemal… Betrunkene gibt es immer wieder einmal, aber das Bahnpersonal reagiert immer ziemlich schnell, sodaß der Störenfried an der nächsten Haltestelle von der Polizei abgeholt wird.

Es gab einige "geheime Städte", die auf keiner Karte verzeichnet waren. Produktionsstätten der Kriegsmaschinerie

Es gab einige “geheime Städte”, die auf keiner Karte verzeichnet waren. Produktionsstätten der Kriegsmaschinerie

Gegen Mitternacht erreicht der Zug Nizhnij Novgrord, die fünftgrößte Stadt Russlands. Bedeutung hatte und hat sie vor allem als Wirtschaftszentrum, aber auch kulturell. Vor allem in den 90er Jahren wurde sie im Westen auch wegen ihrer Strassenkinder berühmt. Es geht weiter. Die Bahnhöfe entlang der Gleise werden immer seltener. Alles ist schneeverhangen da draußen. Am nächsten Morgen geht dann das Gerenne um die Toilette wieder los. Nun werden Trainingsanzüge und Latschen wieder gegen Winterkleidung gewechselt. Am Vormittag fährt der Zug in Kirov ein.

Igor, Olgas Cousin, holt uns ab. Ein stämmiger 40jähriger mit leichtem Bauchansatz. Kräftig sieht er aus, massiver Kopf, breite Schultern. Hände wie Bärentatzen und der Scheitel exakt zur linken Seite gelegt. Wenn man ihn so sieht, dann möchte man ihm lieber nicht im Dunkeln begegnen, denke ich, aber ich lerne ihn als herzlichen und lustigen Menschen kennen. Und was sagt schon das Aussehen über einen Menschen aus?! Na, ganz so einfach ist das nicht. Nicht nur weil wir eine typische Vorstellung davon haben, wie ein Russe auszusehen hat: „wie Klitschko, nur fieser“. –siehe hierzu auch meine kleine Einführung zu Russland. Auch andere Völker haben bestimmte Vorstellungen von uns. Neben Igor wirke ich wie ein schmächtiges Milchmännchen, geradezu weibliche Gesichtszüge, die zarte Haut scheint durch den kalten Winterwind zerschnitten zu werden. Also „Babyface“ könnte man sagen. Jeder erkennt, dass ich kein Russe sei, sagt Olga. Na super, “voll das Opfer” oder wie? Nein, aber Exot. Aber ich bin ja gut beschützt, Igor an meiner Seite. Aber mal Spaß beiseite: vier Mal war ich bisher in Russland (Stand 2016) und bisher gab es keine einzige Situation, in der man mir etwas Schlechtes wollte. Viele sind arm, aber nicht kriminell und vielleicht hat man als „Aussengeländer“ einen gewissen „Bonus“ (die Menschen helfen bereitwillig), auch wenn man mit Reichtum gleichgesetzt wird.

Winter hält Einzug in Kirov

Auf den schlechten Strassen der Gebietshauptstadt geht es zur Wohnung von Olgas Familie, wo bereits ihre Oma mit Bliny und Kaviar wartet.

Russland ist teuer – zumindest für Russen. Aber auch wir können uns Moskau nicht wirklich leisten. Die russische Hauptstadt gehört zu den teuersten Städten der Welt. Die Provinz ist selbstverständlich anders, aber auch hier ist es nicht einfach zu überleben. Die Waren in den Geschäften sind teuer. In einem Kirover Supermarkt sind die Waren nur wenig günstiger, als in Berlin. Wenn der Arzt dann aber nicht mehr als 200-300 Euro im Monat verdient, stellt sich aber schon die Frage, wie man das Leben organisiert. So leben die Russen mit meheren Generationen meist in kleinen und kleinsten Wohnungen. Das war schon zu sowjetischen Zeiten so und so ist es auch bei Olgas Familie. Ein unbefestigter verschneiten Weg führt von der Krasnoarmeyskaya Strasse (Strasse der Roten Armee) zum ihrem Haus. Im Frühjahr wenn der Schnee taut, verwandelt sich der Weg in eine schlammige Piste. Der Gang zum Haus wird zu einer Ferkelei. Das Haus ist ein längliches Gebäude, das mehere Hauseingänge besitzt.

Typisches Wohnhaus in russischen Städten

Typisches Wohnhaus in russischen Städten

Die Fassade ist grau und wirkt mit den unverputzten grauen Ziegelsteinen unfertig. Vor jedem Hauseingang versperrt eine Stahltür den Zutritt. Über eine Tastenkombination an der Seite kann man die jeweilige Wohnung anklingeln. Wir klingeln, die Tür surrt und gewährt uns Eintritt in den dunklen Hausflur. Es finster, der Betonboden mit Sand und Staub bedeckt. Es riecht streng, man möchte wieder an die kalte aber klarerer Luft. Durch das schlecht beleuchtete Treppenhaus mit seinen giftgrünen Wänden schleppen wir uns bin in den fünften Stock. Und stehen schließlich wieder vor einer schweren Stahltür. Überhaupt scheint es hier gar keine normalen Türen zu geben. So gut wie überall nur fette Tresortüren. Dahinter verbirgt sich eine ganz normale Wohnungstür, die allerdings schlichtweg nicht ausgereicht hat, um gegen die massive Einbruchsgewalt von Kriminellen zu schützen. Wir klingeln wieder. Innen tut sich etwas und mühsam arbeitet sich das Geräusch zu uns durch. Schließlich geht auch diese Tür auf und Babuschka (russ. für Großmutter) öffnet die Tür und lächelt uns an.

Die Wohnung ist klein. Eine kleine Küche, eine Minitoilette, ein kleines Bad mit Wanne. Vom Korridor geht es links in ein kleines Zimmer. Geradeaus geht es zu einem größerem Raum, der als Wohnzimmer genutzt wird und Durchgang zu zwei weiteren Räumen bietet. Eine Menge Möbel laden zum Ausruhen ein. Eine Wandschrank, ein Teppich an der Wand. Das ist typisch für Russland. Es soll Gemütlichkeit ausstrahlen und Wärme. Und warm ist es. Sehr warm. Die Heizung bollert, es sind gefühlte 28 Grad in der Bude. Ob wir die Heizung ewas runterdrehen könnten, frage ich. Na klar, sagt die Oma und reißt das Fenster auf. Wa? Wie jetzt? Also etwas runterdrehen hätte gereicht, es müssen ja nicht die -18°C von draußen sein.

Dunkle z.T. überlriechende Hausflure und Treppenhäuser - typisch für Russland

Dunkle z.T. überlriechende Hausflure und Treppenhäuser – typisch für Russland

Nun lerne ich also, wie man in Russland die Temperatur regelt. Nicht etwa, dass die Oma mir Böses wollte, nein, das nicht. Es geht schlichtweg einfach nicht! Die Heizung ist zentral. Ohne Regler in der Wohnung. Man kann nirgendwo die Temperatur regulieren! Was für eine Energieverschwendung!

In Russland werden nach wie vor wie in den sowjetischen Zeiten zu einem bestimmten Termin im Herbst die Heizungen angestellt und dann im Frühjahr wieder abgedreht. Zentral. Wenn also im September z.B. noch 25°C draußen sind, dann wird die Heizung angestellt, komme was wolle! Und wenn im April noch Frostgrade herrschen, wird der heiße Saft abgestellt, es gibt ja schließlich Decken. Ich staune nicht schlecht, aber ich bin ja noch lernfähig. Und ich muß noch eine Menge lernen! Zum Beispiel, daß es als sehr unhöflich gilt, wenn man bei Tische die Nase schneuzt. Aha. Aber mir wird verziehen, ich bin ja “Aussengeländer” und man hat Verständnis mit mir.

Zur Feier des Tages gibt es wunderbaren Bortsch mit Smetana. Das ist so etwas wie Creme freche aber viel besser. Es schmeckt herrlich!

Die nächsten Tage bleiben wir in Kirov. Olga möchte ihre Freundinnen treffen, die Schule besuchen, in der ihre Mutter noch arbeitet und sie selber einmal zur Schule gegangen ist. Ihr Neffe Maxim geht in die Oberstufe und wird bald die Schule mit Abitur beenden.

Für mich ist das alles recht exotisch, vor allem der Winter. Richtiger Winter! Wann haben wir das mal in Deutschland oder gar in Berlin?! Ich kann mich erinnern, dass der Winter 1986 viel Schnee brachte. Da war ich gerade einmal. xJahre alt. (ha, jetzt hätte ich es fast verraten 😉 ). Heutzutage ist es ja in Berlin so: wenn eine Schneeflocke fällt, dann kann die S-Bahn schon nicht mehr fahren. Bei zwei Schneeflocken wird bereits der Notstand ausgerufen und wir wollen uns gar nicht vorstellen, was bei drei Schneeflocken geschieht… Kurzum: der Winter ist zu winterlich, der Sommer zu sommerlich, der Herbst “herbstelt” zu viel und der Frühling… naja, da findet sich schon eine Ausrede, warum der öffentliche Nahverkehr wieder kollabiert.

Blick auf die Philharmonie von Kirov

Blick auf die Philharmonie von Kirov

Und hier? Wunderbarer Schneefall! Eine, nein eine zweite, sozusagen das Schwesterchen, drei, ach was sag ich, ganze Schneeflockenfamilien erreichen die Erde, fassen sich an den Händen und bleiben liegen. Die Stadt ist in feinstes Weiß getaucht. Und: niemand bricht in Hysterie aus! Die Busse fahren, die Kinder gehen zur Schule, die Bauarbeiter bauarbeiten – auch bei -30°C. Klar ist die Effizienz sicherlich nicht besonders hoch, wenn man sich jede Stunde 20 min mit einem Schnaps im warmen Bauwagen aufwärmt, aber keiner meckert und die Leute arbeiten! Ob die Kinder so etwas wie “kältefrei” bekommen? Bekommen Sie: ab -25°C können die Grundschüler zu Hause bleiben, ab -30°C die Mittelstufe und ab -35°C schließlich auch die Oberstufe.

Ich brenne darauf, in die Landschaft zu kommen. Sehen, wie die Natur aussieht, das “wilde Russland” im Winter. Wir entscheiden uns, nach Kazan zu fahren. Die Hauptstadt Tartastan liegt rund 450 km weiter südlich an der Wolga. Es soll eine schöne Stadt sein. Mit dem Zug ist es zu umständlich und dauert zu lange. Ausserdem sind wir nicht flexibel genug. Also versuchen wir uns einen Mietwagen zu nehmen, was nicht so einfach ist. Es ist nicht üblich, ein Auto zu mieten. Es gibt nur wenige Mietwagenfirmen. Nur in den großen Metropolen gibt es internationale Ketten wie Europcar, Hertz usw. In Kirov sind sie nicht vertreten. Wir machen eine kleine Firma ausfindig und entscheiden uns für einen Lada. Ein russisches Auto soll es sein. Nicht nur, dass er der billigste ist, sondern ich möchte auch echtes russisches Autofeeling bekommen. Nach etwas aufwendigem Prozedere bekommen wir schliesslich den Wagen. Die Dame erklärt uns noch mit einem Grinsen, dass der letzte Europäer (übrigens auch ein Deutscher), der bei ihr einen Lada gemietet hatte, den Wagen nach zwei Stunden gegen ein japanisches Modell ausgetauscht hat. Er kam einfach nicht zurecht mit der echten russischen Technik.

Fahrt nach Kazan

Fahrt nach Kazan

Man kann über die russischen Autos eine ganze Menge berichten: keinerlei Sicherheit, Elektrik, die ständig kaputt geht usw. Dennoch gibt es auch positive Aspekte. Zum Beispiel, dass ein russisches Auto sicherlich für den russischen Winter nicht vollkommen verkehrt sein kann. Ausserdem finden sich an jeder Ecke Ersatzteile und reparieren kann der Kundige auch ohne Computertechnik, ohne die bei den neuen Fahrzeugen nichts mehr geht. Igor, Olgas Cousin bringt es auf den Punkt: “Welche Elektronik? Vorne ein Lämchen, hinten eins, das wars! Und reparieren kann das jeder Bauer mit einem Hammer und einem Schraubenzieher!” Für mich als hobbybegeisterten “Alles-Auseinander-Bastler-und-nicht-wieder-zusammenkriegen-Meister” ist das sicherlich nicht so einfach, aber die Russen sind Meister im Improvisieren und praktischen Lösungen. Anders kann man hier nicht überleben. Das haben die Menschen nicht erst im Kommunismus mit seiner Mangelwirtschaft gelernt.

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Auf Strassenkarten kann man sich nicht immer verlassen

Jetzt sitze ich also in “unserem” Lada, dem Volkswagen Russlands. Er hat alles was man braucht und nichts was man nicht braucht. Wir wagen uns auf die Strasse. Die ersten Kilometer sind etwas gewöhnungsbedürftig. Der Verkehr ist anders, und man muß extrem auf die Schlaglöcher aufpassen.

Am nächsten Tag geht es los. Das Thermometer zeigt -21°C. Na dann, auf gehts. Die Straßen der Region gehören zu den schlechtesten in Russland. Wir zwängen uns durch den dichten Verkehr und dann sind wir endlich draußen: auf dem Land. Die Strassen wirken zunächst noch von Schnee ganz gut geräumt, aber schon nach wenigen dutzend Kilometern holpern wir nur noch auf einer Schnee- und Eispiste gen Süden.

In Sovjetsk machen wir eine Pause. Eigentlich wollen wir etwas essen. Wir halten an einem Parkplatz mit einer “Stolowaja“. Das ist so etwas wie eine Kantine. Doch zunächst müssen wir uns erleichtern. Das kleine Toilettenhäuschen befindet sich hinter der Kantine. Ich öffne die Tür und glaube zuerst einen riesigen Ameisenhaufen zu erblicken. Mögen mich meine müden Augen auch täuschen, meine Nase tut es nicht. Ein riesiger Scheißhaufen grinst mich an. Oben auf der Spitze eine kleine Fahne Klopapier. Ich stolpere rückwärts wieder raus und schaue Olga verdattelt an. Wir entschliessen uns dann doch eher die Bäumchen zu gießen und woanders etwas zu essen…

Dieses Mal Schnee- und keine Sandwüste

Dieses Mal Schnee- und keine Sandwüste

Wir fahren weiter. Die Strasse wird einsamer. Es schneit. Herrlich! Bloß keine Reifenpanne haben, denke ich mir, aber alles geht gut. Wir passieren Mari-El, eine Republik, die auf halben Weg nach Kazan liegt. Einsam und ruhig liegen die Dörfer da. Schließlich Tartastan. Je mehr wir und der Hauptstadt Kazan nähern, desto dichter wird der Verkehr. Auf der Landstrasse werden wir wie verrückt überholt – links und rechts gleichzeitig. Von LKWs. Im Dunkeln kommen wir in schließlich in Kazan an. Eingechekt wird in einem zentral gelegenen Hotel, das Auto sicher auf dem bewachten Hotelparkplatz abgestellt. Auch wenn die Kriminalität längst nicht mehr so hoch ist wie in den 90Jahren und auch wenn es nur ein Lada ist, muß man schon etwas auf der Hut sein.

Überholen wo es nur geht: Anderes Land, anderes Fahrverhalten

Wir machen noch einen Spaziergang, wir sind neugierig. In der Dunkelheit strahlen die historischen Bauten. Auf dem Kreml zieht die “Kul Sharif“, die größte Moschee Europas, die Aufmerksamkeit auf sich. Schon von Weitem kann man sie bewundern. In unmittelbarer Nachbarschaft noch andere historische Moscheen, orthodoxe Kirchen und der Präsidentenpalast des hiesigen Herrschers. Tartastan ist eine muslimisch geprägte Republik, ein Zentrum des russischen Islams. Christen und Muslime leben friedlich miteinander, obwohl auch hier Geldgeber aus den arabischen Golfstaaten ihren Einfluss auf die Muslime versuchen auszubauen.

Kul-Sharif Moschee Kazan

Am nächsten Morgen geht es nach einen guten Frühstück wieder los. Quer durch die Stadt. Eine kleine Kirche verzaubert uns. Die Fassade geradezu farbenfroh, innen und außen in einem guten Zustand. Draußen hängen riesige Eiszapfen herunter. Innen der Glanz des Goldes und die typischen Ikonen. Als der Wächter merkt, dass wir aus Deutschland kommen, begrüßt er uns auf Deutsch. Ein paar wenige Wörter kennt er und gestattet mir sogar das sonst verbotene Fotografieren.

Eine von unzähligen Kirchen in Kazan

Eine von unzähligen Kirchen in Kazan

Weiter geht es durch die anschauliche Innenstadt, vorbei an der Universität und über den vereisten See, der eigentlich eine Erweiterung des Flusses Kazanka ist, der in die Wolga mündet. An einer Bushaltestelle grinst und die Werbung für Media Markt an, schön garniert mit einer schwarz-rot-goldenen Flagge…

...im Innern

…im Innern

Außer Media Markt und verschiedenen historischen Gebäuden blickt die Stadt auf eine wechselhafte Geschichte zurück: Wolgabulgaren, Mongolen, der Zar, die Sowjetherrschaft. Auch mit Deutschland gibt es Berührungspunkte: so unterrichteten an einer der ältesten Universitäten Russland einst auch deutsche Gelehrte die latainische Sprache, während andere Bereiche in der Orientalistik Bedeutung erlangten. Später, in den 20er Jahren testeten deutsche und sowjetische Militärs heimlich Panzer in Kazan (die Reichswehr durfte ja nur mit Papierpanzern spielen). Später gab es ein Lager für deutsche Kriegsgefangen hier.

Wie im Märchen: der Palast des Präsidenten von Tartastan

Wie im Märchen: der Palast des Präsidenten von Tartastan

Die Stadt gefällt uns, es lohnt sich sicherlich einmal im Sommer hierher zu kommen. Es gibt eine Menge zu sehen, aber für unseren Kurztripp reicht die Zeit nicht aus.

Nach einer weiteren Nacht machen wir uns wieder auf den Heimweg. Dieses Mal wollen wir eine andere Route wählen, die über die Dörfer führt. Der Verkehr in der Stadt ist chaotisch, eigentlich eher so wie in Marokko oder Tunesien. Alles geht kreuz und quer. Olga fährt und ist am Ausrasten, während ich dieses Chaos herrlich amüsant finde. Irgendwann haben wir es dann aber geschafft und eiern wieder über verschneite Pisten durch die Dörfer. An einem Dorfkiosk wollen wir etwas Süßigkeiten kaufen. Ich bleibe im Auto sitzen, während Olga in den Laden geht.

Dorf in Tartastan

Dorf in Tartastan

Ein Hund schlendert mit leicht wedelndem Schwanz über die Strasse. Im Spiegel sehe ich einen Mann, der sich torkelnd unserem Auto nähert. Er torkelt vorbei und bleibt dann doch stehen. Ich schaue über die Motorhaube hinweg zu dem Mann, der sich jetzt irgendwie an der Hose rumzupopeln scheint. Der wird doch wohl nicht… Und schon strullert er auf die Strasse. Direkt vor unserem Auto! In der einen Hand hält er die Schnapspulle fest. Oder vielleicht hält sie ihn fest. Olga kommt aus dem Laden. Zum Glück ist er auch gerade fertig und bestaunt sein Meisterwerk. Als er uns bemerkt versucht er zu grinsen uns winkt uns zu, so als ob er sich entschuldigen wollte. Olga huscht in den Wagen und weiter gehts, bloß nicht auf dem neu entstandenen Oberflächengewässer ins Schleudern geraten…

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Schneewüste

Mit der Karte in der Hand geht es von Dorf zu Dorf. Hübsche, bunte Häuschen, z.T. tief eingeschneit glitzern in der Wintersonne. Mal steht eine Kirche im Dorf, mal eine Moschee. In einer kleinen Siedlung scheint der Weg zu enden. Wir fragen einen Mann. Leider sehen wir zu spät, dass er auch nicht geradeaus laufen kann. Das Fenster geht nicht auf, wahrscheinlich vereist, also öffnet Olga die Beifahrertür und fragt den reiferen Herrn mit Schnauzbart nach dem Weg. Dieser kriegt jedoch kaum einen Satz heraus und hat dermaßen mit dem Gleichgewicht zu kämpfen, dass er Olga fast auf dem Schoß landet. Immerhin ist er freundlich und zumindest können wir dem Genuschel entnehmnen, dass die Strasse, die wir suchen, nur im Sommer befahrbar ist. Aha. Also wieder zurück und einen anderen Weg gesucht. Wir landen schließlich auf der richtigen Hauptstrasse, doch auch die ist nicht unbedingt stark befahren. In der wunderbaren Abenddämmerung erscheint die schneebedeckte Landschaft wie in ein blaues Licht getaucht. Ich steige aus dem Auto, aber ohne Handschuhe. Das ist immer so beschwerlich mit der Kamera. Ich mache 2,3 Fotos und kann meine Finger nicht mehr spüren. Mann, ist das kalt. Ich springe in den Wagen und starte ihn wieder. Dabei wird nicht nur die Batterie angezeigt, sondern auch für einen Moment die Temperatur: -34°C ! Deshalb spüre ich meine Finger nicht mehr! rus-2013-1Deswegen fahren wir seit 4 Stunden durch die Landschaft und haben immer noch Jacke, Schal und Mütze auf! Deshalb gefriert das Wasser auf der Windschutzscheibe, als ich sie “nur mal kurz eben” sauber machen möchte (ganz besonders intelligent von mir 😉 ). Olga hatte mich gewarnt, aber ich hatte es nicht geglaubt. In dem Moment, wo das Wasser die Scheibe berührt (die ja von innen eigentlich vom warmen Gebläse angewärmt wurde), gefriert es sofort! Ach egal, dann kratze ich eben den Dreck von der Scheibe!

Es geht weiter, durch die sprichwörtliche Finsternis. Wir fahren maximal 70 Stundenkilometer und die Reifen haben Spikes drauf, dennoch springt und schlingert der Wagen in den Kurven aber auch auf gerader Strecke. Der Mix aus Schnee und Eis macht es. Tief darunter liegt dann irgendwo der Asphalt. An Scheinwefern und auf der Motorhaube wächst langsam eine Eisschicht… Es ist einfach die Natur, die uns unsere Grenzen aufzeigt.

Eine Eisschicht überzieht die Motorhaube

Eine Eisschicht überzieht die Motorhaube

Schließlich erreichen wir Kirov. Wir hatten einen wunderbaren Ausflug, aber die Rückfahrt hatte es fahrtechnisch wirklich in sich.

Wir bleiben noch ein paar Tage in Kirow, treffen Olgas Freunde und ich laufe zum ersten Mal Skilanglauf. rus-2013-23-01-ski-3Allzuweit komme ich zwar nicht, aber es macht Spaß! Während ich mir einen abjapse überholt mich ein rustiger Rentner in Bundeswehrhosen. Als er merkt, dass wir Deutsch sprechen freut er sich und lobt die Klamotten der Bundeswehr. Die besten Hosen, die er jeh hatte! Also ich bin mit meinen fetten Thermohosen sehr zufrieden…

Schließlich heißt es Abschied nehmen. Wir werden zum Bahnhof gefahren und nehmen Abschied von der Familie.

Russland ist kein einfaches Reiseland, aber auf den Matsch, Regen und die ganzen Meckerfritzen in Berlin habe ich trotzdem keine richtige Lust.

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Zur Gallerie Winter in Russland

Und dann gibt es ja auch noch Russland im Sommer (2014): Von Jekaterinenburg nach Kirov und zurück