Sommer in Russland

Von Jekaterinenburg nach Kirov und zurück (2014)

„Guten Flug“, ruft uns unser lithauischer Mitbewohner noch zu, bevor er ins Auto steigt und davon faehrt. Wir machen uns auf den Weg in das Innere des Flughafens in Manama, Bahrain. Problemlos wird unser Gepaeck entgegen genommen und wir warten nur noch auf den Abflug. Schnell noch ein paar Leckerli gekauft und die Sportwagen im Duty-Free-Bereich bestaunt und dann gehts los.

1

Kleinwagen gefällig? Duty Free in Manama

Mit Umsteigen in Dubai geht es die naechsten 5 Stunden ueber den Iran nach Jekaterinenburg* am oestlichen Rand des Urals. Da wir dieses Mal etwas anderes sehen *aufgrund der unterschiedlichen Schreibweise des Staedtenamens waehle ich jeweils den, nach dem mir gerade zumute ist wollten und darueber hinaus auch den Moloch Moskau vermeiden wollten, entschieden wir uns fuer einen recht guenstigen Flug mit FlyDubai.

20140604_120755

Über dem Aralsee

Dabei ueberfliegen wir die Steppen Usbekistans und Kasachstans und koennen auch einen Blick auf den Uralsee werfen. Bald schon erreichen wir die flache Landschaft des Chelyabinsker Oblasts mit seinen vielen Seen und von hier ist es nicht mehr weit bis nach Jekaterinenburg.

 

1 Ankunft in Jekaterinenburg

“Passport!”, droehnt mir die rauchige Stimme der Dame hinter der Glasscheibe durch die Sprechanlage entgegen. Ich stehe nicht etwa an der Passkontrolle, sondern versuche in der kleinen Wechselstube am Jekaterinenburger Flughafen Euro gegen Rubel zu tauschen. Dem Aussehen nach hätte ich sie ein paar Jahrzehnte jünger geschätzt, der Freundlichkeit zufolge aber noch ein paar Jahre draufgegeben. Ohne aufzublicken nimmt sie meinen Pass entgegen und ich versuche noch einmal anzubringen: „Ja chatschu kupitch Rubley“ – „Ich moechte Rubel kaufen“. Keine Antwort, kein Blickkontakt. Der hier gelebte Servicegedanke macht mir wieder deutlich, dass eine Reise nach Russland nicht nur eine Reise in ein anderes Land ist, sondern immer auch in eine andere Zeit. Die Scheine wechseln den Besitzer und ich verlasse die Wechselstube. Frische Luft weht uns um die Nase.

flug ueber iran

Übersichtskarte

Nach den Monaten der trockenen oder auch mal feuchten, aber stets heissen Luft geradezu mal eine Wohltat, die vor allem klare und leichte Luft zu schnuppern. Es ist kein Woelkchen am Himmer. Vor dem Flughafengebaude steht ein Dusenjet-Mahnmal. Der erste, den es je gab, so erklart uns Irina, eine Jekaterinenburger Fremdenfuherin, die mit einem Fahrer am Flughafen auf uns gewartet hat. Sie ist eine Mitarbeiterin in einem kleinen Reisebuero in der Innenstadt, dessen Besitzerin eine Freundin einer finnischen Bekannten ist, die in Bahrain lebt. Wie klein die Welt doch ist. Dass dieser Düsenjet noch vor der deutschen Messerschmidt die Luft durchschnitten hat, wage ich zu bezweifeln, doch auf irgendwelche Diskussionen habe ich keine Lust.

Im grossen Gelaendewagen sind unsere wenigen Taschen schnell verstaut und auf einer breit ausgebauten Autobahn geht es rasch Richtung Innenstadt. Abgesetzt werden wir vor unserer Herberge, einem kleinen Hostel in der Ulitsa Gorkovo. Es ist ein kleines altes Kaufmannshaus, betrieben von Dimitri und seiner Mutter. Es wird noch renoviert, aber das, was sie geschaffen haben ist eine kleine, aber familiaere und gemuetliche Herberge. Viele Traveller begegnen uns, machen mitunter eher einen Hippie-Eindruck. Unter all den Gaesten faellt Andrej auf, ein Slovake, der mit seinem 250 ccm-Roller von Bratislava quer durch den europaeischen Teil Russlands bis hierher nach Jekaterinburg gefahren ist.

Andrej aus Bratislava

Jetzt wird er den Rueckweg antreten. Noch gegen Mitternacht ist es etwas hell. Die Nacht vergeht schnell. Am naechsten Morgen merke ich den Druck auf dem Enddarm. Na klar, ich bin wieder in Russland, wie soll es auch anders sein. Kaum angekommen brennt die Duese.

Das Klo werde ich an diesem Tag oefters aufsuchen, auch wenn mich das Schlappsein mehr nervt. Wir haben uns mit Irina verabredet, unserer Fuehrerin. Sie fuehrt uns quer durch die historische Stadt. Zunaechst steuern wir die alten Fabrikgebaeude an, die im Quadrat angelegt sind und das Dach gruenem Anstrich versehen. So wie die meisten Gebaeude der Stadt aus den Gruenderjahren des 18. Jahrhunderts. Entlang der Isset geht es zu dem Denkmal der beiden Gruender der Stadt: Wassilli Tatischtschew und Georg Wilhelm Henning. Letzterer war ein deutschstaemmiger Offizier aus Niedersachsen und Kaufmann, der zugleich Ingeneur mit Spezialisierung auf dem Gebiet Bergbau und Metallurgie war. Das hatte auch seinen Sinn, denn auf Befehl des Zaren sollte die Stadt zum Kern des metallverarbeitenden Gewerbes und eine der ersten russischen Fabrikstaedte werden. Den Namen trug erhielt sie daher nicht nur zu Ehren der Kaiserin Katharina I., sondern auch der Heiligen Katharina, welche die Schutzpatronin der Bergarbeiter war.

1 (23)

Die „Zeitkapsel“ von 1973

Weiter geht es zur „Zeitkapsel“: 1973 versenkten ein paar Buerger der Stadt, die damals noch Sverdlovsk hiess, verschiedene private Gegenstaende in einer kleinen Grube unter der Erde mitten in der Stadt und verschlossen diese mit einer schwerden Eisenplatte. Im Jahre 2023 soll es dann soweit sein, und die Grube soll ihr Inneres wieder preisgeben.

Beim Durchqueren des innerstaedtischen Parks erregen moderne Skulpturen aus Kunstgras unsere Aufmerksamkeit. Eine Hand und ein Baer mit einem Korb sind Kletterobjekt einer Horde von Kindern. Irina erklaert uns, dass die kuenstlerische Szene in Jekaterinburg sehr aktiv sei. Das haben wir schon an verschiedenen Waenden gesehen, die mit interessantem Graffitti geschmueckt sind. Neuerdings gebe es eine unbekannte Gruppe von Kuenstlern, die ihre Skulturen, wie eben auch den Baeren oder die Hand, in einer naechtlichen Aktion auf oeffentlichen Plaetzen positionieren. Sie tragen Masken und verschwinden sofort wieder. Die Stadt hatte einen Aufruf gestartet, die Kuenstler moegen sich zu erkennen geben, weil deren Kunstwerke so geschaetzt wuerden, dass man sie hatte auszeichnen wollen.

1-30

Moderne Kunst in Jeka ueber Nacht – zumindest im Hintegrund

Das naechste Ziel wartet schon auf der gegenueberliegenden Strassenseite: Das Sewastjanow-Haus. Ein bunter Mix aus allen moeglichen verschiedenen Baustilen, erklaert uns Irina und fuehrt uns entlang des von einem imposanten Giftgruen dominierten Haus. Ein reicher Handelmann aus Sibirien wuenschte ein besonderes Haus zu bauen. Er liess den Architekten A. Padutschew aus St. Petersburg kommen, und auf die Frage, in welchem Stil das Haus erbaut werden solle, wusste der Bauherr keine Antwort. Er hatte es zwar zu einem beachtlichen Wohlstand gebracht, war aber eher ungebildet. Daher kannte er sich mit Architektur nicht aus, und antwortete schliesslich „alle“. So schuf der Architekt zwischen 1860-1866 ein Haus, das viele verschiedene Baustile in sich vereinigt. Als es fertiggestellt war vermietete er es jedoch und jeden Morgen kam er zu dem Haus und setzte sich davor. Wenn Passanten vorbeikamen, so fragte er sie, wie sie das Haus faenden. Wenn nun die Passanten das Haus bewunderten, so sagte er stolz, es sei das seinige.

Sewatsjanow Haus 2014

Sewastjanow Haus

Doch das reichte dem Bauherrn nicht aus. Als er schliesslich auch noch das Dach vergolden wollte – eine Ehre, die nur Gotteshaeusern vorbehalten war- , wurde es der russichorthodoxen Kirche zu bunt. Sie verdonnerte ihn dazu zwei Jahre lang mehere Kilometer mit schweren Stahlschuhen jeden Tag zweimal zur Kirche zu laufen.

1 (38)

Ein Kunstwerk

Nach dem Puschkin-Denkmal und der Statue zum Gedenken an Alexandr Stepanowitsch Popov, dem russischen Erfinder der Radiowellen, erreichen wir die wahrscheinlich zentralste Sehenswuerdigkeit der Stadt. Auf einem Huegel steht majaestetisch die Kathedrale auf dem Blut in der Mittagssonne.

Die Kathedrale auf dem Blut

Hier stand das Ipatjew-Haus, in dem nach der Revolution 1918 die Zarenfamilie gefangen gehalten und schliesslich ermordet wurde. Der Zar und seine Familie besitzt einen besonderen Status in Russland, vor Jahren wurde die Familie heilig gesprochen. Da der kommunistische Machtapparat die gehasste Religion fuerchtete und das Entstehen eines Wallfahrtsortes verhindern wollte, wurde es 1977 in einer Nacht- und Nebelaktion auf Befehl des damaligen staedtischen Parteisekretaers Boris Jelzin – dem Geheiss Moskaus folgend – abgerissen. 2000 wurde die jetztige Kathedrale errichtet, die im unteren Geschoss immer noch die nachgestellte Kammer beherbergt, in der die Zarenfamilie erschossen wurde.

Zar

Kinder der ermordeten Zarenfamilie

Unsere naechste Station ist ein kleiner Insider-Tip: ein privates geologisches Museum mit mehr als 2000 Exponaten, nicht nur aus dem Ural und Russland. Die Geschichte, die sich um den Besitzer rankt ist typisch fuer das heutige Russland. In jahrzehntelanger Arbeit hat er interessante Exponate zusammengetragen, darunter Knochen eines Mammuts und von Fossilien, die aelter als 200 Millionen Jahre sind.

1 (126)

Ametyst

Mehrmals haben Interessenten versucht, ihm seine Sammlung abzukaufen, doch stets wies er auch noch so bedeutende Betraege zurueck. Zuletzt hatte es jedoch eine Bank auf das Gebaeude abgesehen, in dem sich das Museeum befindet.

1 (125)

Clinichlor

Angebote, Drohungen bewegten ihn nicht dazu, das Haus zu verlassen, auch als man ihm Wasser und Strom abstellte. Er besorgte sich einen Generator und dieser laermt nun vor dem Eingang und sorgt fuer Licht. Doch nicht genug, man liess eine Betonmauer um den Eingang errichten, um ihn am Zugang zu hindern.

1 (100)

Femur (Oberschenkelknochen) eines Mammuts

Doch der aeltere Herr, der ueber Weltkriegserfahrung verfuegt, liess sich nicht beirren, besorgte Sprengstoff und sprengte ein grosses Loch in die Mauer, durch das nun die Besucher zum Eingang gelangen. Fortsetzung folgt.

1 (97)

200 Mio Jahre altes Skelett eines Geckos

Vergessen sollte man nicht, dass das eigentlich eher eine mildere Form der Kriminalitaet ist. Immerhin hat Russland in den 90er Jahren traurige Zeiten als „Wilder Osten“ erlebt, in denen wegen wenigen Euro Menschen ermordet wurden. Jekaterinburg hat seitdem den Ruf der „Mafia-Hauptstadt Sibiriens“ inne. Vor allem zwei grosse Banden lieferten sich hier gewaltsame Auseinandersetzungen, die mit Maschienenpistolen und Handgranaten sowie Autobomben filmreif waren: die „Uralmash-Gang“ und die „Central Gang“. Die Todesopferauf beiden Seiten war so gross, dass beide ihre eigenen Friedhoefe hatten, die man auch heutzutage besuchen kann. Hier kann man die damaligen „Herren ueber Leben und Tod“ bestaunen. Ueberlebensgrosse fotoaehnliche Darstellungen mit Lederjacken, Zigarette und Mercedes, mal mit drohenden oder auch betont „coolen“ Posen schmuecken die Graeber der bedeutenderen Bandenmitglieder. Wir entschlossen uns, ein anderes Mal diese Friedhoefe des Grauens zu besuchen. Zum Abschluss unserer mehrstuendigen Tour erreichen wir das Dach eines Handelszentrums, von dem man einen herrlichen Blick ueber die gesamte Stadt hat. Unser naechstes Ziel ist das Holiday Inn, wo eine Filiale der Autovermietung „Hertz“ untergebracht ist. Vor dem Hotel steht ein Reisebus aus Frankreich. Eine Reiseagentur, wirbt mit Reisen von Frankreich nach Fernost, quer durch Russland. Bei der Autovermietung dauert es eine Weile, aber schliesslich bekomme ich den Schluessel eines nagelneuen VW Polos ueberreicht. Es riecht noch ganz neu im Innenraum und auf dem Tacho sind gerade einmal 120 km.

Blick Jeka

Blick vom „Torgowi Zentr“ (Handelshaus) ueber die Stadt

Wir machen unsere ersten Kilometer und da wir uns nicht auskennen und kein vernuenftiger Stadtplan bisher zu finden war, landen wir erst einmal in einer engen Sackgasse, umgeben von „wunderschoenen“ Plattenbauten. Beim Rangieren passiert’s dann: Zack ein kleiner Kratzer. Der steinernde Blumenkuebel war kaum zu sehen gewesen beim Rueckwaertsfahren und die tuerkise Farbe ist nicht zu uebersehen. Naja, erst einmal abreagieren, durchatmen, alles wird gut. Also weiterfahren und durch den gewoehnungsbeduerftigen Verkehr der 1,3 Mio Metropole den Weg nach Hause finden.

 

2 Durch den Mittleren Ural nach Europa

Am naechsten Tag schaffen wir es nicht vor 11 Uhr loszufahren. Naja, ist ja lange hell. Wir wollen die rund 950 km nach Kirov vor dem Dunkelwerden moeglichst schaffen, ohne uebernachten zu muessen. Nach dem Einkaufen und nach einigem Suchen haben wir dann auch die richtige Ausfallstrasse nach Westen, Richtung Ural gefunden. Zunaechst geht es auf holprigen, aber doch ganz guten Autobahnen Richtung Perm. Etwa 12 km hinter der Stadt verlassen wir Asien und Sibirien und erreichen Europa. Die Fahrt gestaltet sich unspektakulaer, waeren wir nicht seit meheren Monaten in Bahrain ansaessig. Wir koennen uns erst einmal an dem Gruen nicht satt sehen. Die Landschaft wird von satten Wiesen, Feldern, Bueschen und Waeldern gepraegt. Die Berge bzw. Huegel errinnern maximal an ein Mittelgebirge. Wenige Kilometer weiter eine Gedenkstaette des „Roten Terrors“, der Opfer, die der Vernichtung durch Stalin und seinen Gefolgsleuten nicht entgehen konnten.

Mahnmal

Mahnmal fuer die Opfer des „Roten Terrors“

Bald schon degeneriert die vierspurige Autobahn, zu einer Art zweispurigen Bundesstrasse, die immer mal wieder wie ein Pflickenteppich aussieht. Auf der Gegenfahrbahn kommt uns ein alter Mercedes-LKW mit Muenchner Kennzeichen entgegen. Na bitte: Wir sind gar nicht so verrueckt, wie die Verwandtschaft immer denkt, es gibt auch „Gleichgesinnte“. Weiter geht es ueber Baustellenabschnitte und ploetzlich knallt es auf der Windschutzscheibe! Steinschlag, wie geil! So eine verdammte Sch…e! Nagelneues Auto, geliehen! Noch nicht einmal 200 km runter!!!! Na gut, wir regen uns auf und wieder ab, bestaunen den Schaden, regen uns wieder auf und ab und fahren schliesslich weiter. Den Schaden werden wir in Kirov versuchen zu reparieren. Cousin Igor kennt da ein paar Leute. Also geht es weiter. Wir fahren und fahren, wechseln uns ab. Eigentlich ist das jetzt der mittlere Ural, aber weit und breit nichts spektakulaeres, nur mein Gedaerm sorgt fuer ein erregtes Gemuet. Dafuer sind jetzt kleine und groesser Senken und Seen zum Landschaftrepertoire dazugekommen.

1 Ekat - Kirov (40)

Richtung Europa

Grenze zwischen Sverdlovsker Oblast und Permskij Krai (Region Perm) Wir fahren an Perm, einer ehemaligen geheimen Sowjetstadt mit Gulag-Geschichte vorbei. Viel Schwerlastverkehr, Baustellen. Hinter Perm verlassen wir die „Transkontinentale“, die von Moskau nach Wladiwostok ein Strassenpendant zur Transsibirischen Eisenbahn darstellt. Die Strasse fuerht uns nach Norden, die Strassen werden ruhiger, bald auch richtig verlassen, dafuer aber auch schlechter. Deutlich schlechter. Fast knietiefe Schlagloecher und Verformungen, als ob der Asphalt unter der Last der LKW-Raeder foermlich geschmolzen waere. Zunaechst sehen wir diese Stellen erst spaet, aber als uns schliesslich jemand ueberholt und davonfaehrt, koennen wir uns an ihm orientieren. Wenn Fahrzeuge ploetzlich wilde Schlangenlinien fahren, heisst das jetzt fuer uns nicht etwa, dass dem Fahrer die Wodka-Pulle entglitten ist, und diese nun im Fussraum oder auf der Rueckbank sucht. Nein, es ist jetzt ein wichtiges Zeichen, das man in der Fahrschule so nicht gelernt hat. Man kann jetzt zumindest abschaetzen, wo man mit gefaehrlichen Stellen zu rechnen hat.

1 Ekat - Kirov (70)

Das Relief der Strasse…

1 Ekat - Kirov (72)

…scheint mehr Hoehen und Tiefen aufzusweisen, als die Landschaft selbst

Unsere Uhr zeigt 23:00 als wir endlich die Grenze des Gebietes Kirovs erreichen. Jetzt sind es „nur noch“ knapp 300 km. Nach etwa 15 Stunden haben wir es dann auch geschafft und stehen dann mitten in der Nacht bei Tamara und Oma Polina auf der Matte.

1 Ekat - Kirov (88)

Kirovskaya Oblast. Fast geschafft, „nur noch“ 300 km bis nach Kirov-Stadt.

 

3 Kirov, Babushka‘s Bliny und Kaviar

Die Stadt des gleichnamigen Oblasts (Oblast ist so etwas wie Bundesland bei uns), der etwa die Größe von Bayern, Baden-Würrtemberg und Hessen zusammen hat, empfängt uns mit blühenden Bäumen und sattem Grün. Einst eine sogennate „verbotene Stadt“, in der geheime rüstungs- und verteidigungstechnische Pläne der Sowjetunion geschmiedet und umgesetzt wurden, ist sie jetzt offen für Besucher zugänglich und hat nichts Geheimes mehr an sich. Die Gründerjahre gehen auf Kaufleute aus Novgorod zurück. Das Stadtbild ist geprägt von großen Prachtstrassen, die schon zu Zeiten Katharinas der Großen angelegt wurden, die die Stadt Vyatka, nach dem gleichnamigen Fluss, nannte. Den modernen Namen bekam sie zum Gedenken an den von Stalin ermodeten Kommunisten Kirov.

okrj prospekt

Oktjabriskij Prospekt, Kirov

An den großen Prachstrassen, wie auch in den kleineren Seitenstrassen des nach einem Schachbrett orientierten Bebauungsplanes findet man einen Mix von Häusern aus allen Epochen in unterschiedlichem Zustand. Neben alten aus Holz mal mehr mal weniger kunstvoll gebauten „Isbah´s“ stehen sowohl Plattenbauten, wie auch Häuser aus der Zarenzeit. Das alles macht einen verwirrenden wie auch faszinierenden Eindruck. Die Strassen der Kirover Region gehören zu den schlechtesten Russlands, auch wenn wir diese auf unserem Rückweg noch zu schätzen lernen sollten.

20140607_125302

Bliny (Pfannkuchen/Eierkuchen) mit russischem Kaviar und Smetana

Auch in der Gebietshauptstadt, die etwa 400.000 Menschen beheimatet, fallen die schlechten Strassen auf. Nicht nur was den Strassenbelag anbelangt, so liegt die Region auch in Sachen Arbeitslosigkeit und Korruption weit vorne im russischen Vergleich.

„Pass auf! Nicht träumen!“, ruft Olga mir zu und zieht mich von einem Gullideckel runter. „Hier sollte man nicht auf Gullideckel treten, dass habe ich Dir schon gesagt!“ „Jaja, schon gut“, antworte ich widerwillig, weil mir das manchmal wie Aberglaube vorkommt, wenn die Leute auffällig einen Bogen um die Gullideckel machen, bis ich selber die Erfahrung mache, dass diese sehr locker sind, und gerne mal dem Gewicht eines Passanten nachgeben können. Zum Glück ist nichts passiert, aber erschrocken habe ich mich trotzdem. Da fällt mir ein Video auf Youtube ein, in dem ein Auto auf einer Seitenstrasse in einer russischen Ortschaft gezeigt wird, dass mit einem Vorderrad in einen Gulli ohne Deckel gerät und sich einprägsam überschlägt! Also Augen auf!

Die Tage vergehen im Flug. Die erste Woche eigentlich nur Regen. Die Temperatur beträgt nicht mehr als 12-15 Grad. Eines Nachts sind es nur +3 °C. Na super. Aber mal ehrlich: genug Sonne haben wir ja das ganze Jahr über.

20140620_183423

Hier mal eine “abgesicherte” Fallgrube

Fehlende Gullideckel oder unbefestigte stellen eine echte Gefahr dar. Wir kaufen uns in einem Army-Geschäft Regenponchos und Gumistiefel und machen einen Spaziergang im Wald. Kaum ausgerüstet, hört der Regen natürlich auf, aber sofort sind die Mücken da und machen gierig Jagd auf uns. Also vermummen wir uns wie die Araberinnen mit Burka!

Ein Highlight stellt der Besuch der russischen Polizei- bzw. Immigrationsbehoerde dar, bei der sich jeder Auslaender innerhalb einer Woche bzw. moeglichst bald melden muss. Dieses Mal haben wir die Sache wohl etwas zu locker angehen lassen. Satte 12 Tage sind wir schon hier und damit deutlich zu spaet. Zunaechst ueberreichen wir die gewuenschte Kopie des Passes, wo auch das Visum abgebildet ist. Nett, aber bestimmt erklaert uns die Dame, dass das nicht ausreiche. Der ganze Pass muesse kopiert werden. Das war letztes Jahr noch nicht so. Also die ganze Warterei umsonst. Copyshop finden, Kopien machen, wierder zurueck. Vielleicht wollen die nur sehen, in welchen Laendern ich gewesen bin, also Ukraine oder anderen Schurkenstaaten…

Nein, erklaert sie uns, auch die leeren Seiten muessten kopiert werden. Haeh? Also weiter kopieren. Um „ganz sicher zu gehen“ kopiere ich nun auch nich die Vorder- und Rueckseite des Reisepassumschlags. Sie erklaert uns, dass ich nach geltendenden Regeln gegen diesen und jenen Paragrafen verstossen haette und man eigentlich von einem Uniformierten verhoert werden muesse. Aber das ginge erst am Montag. Montag?? Da wollten wir schon laengst wieder in Jekaterinenburg sein! Gegen eine Gebuehr von etwa 50 Euro kann ich der ganzen Sache entrinnen. Anscheinend doch eher eine Moeglichkeit um Geld zu machen und nicht ganz so toternst, zumindest in unserem Fall.

Bevor sich unser Aufenthalt dem Ende zuneigt muessen wir eine Besuch auf dem Friedhof machen. Dort liegt Olgas Opa. Ein kleines Grab, das zwischen vielen anderen durch seine Bescheidenheit auffaellt. Das erste Mal war ich im Winter hier gewesen, und auch damals warnte mich Olga schon vor der Gefaehrlichkeit solcher Orte. Im Gegensatz zu vielen Staedten in Deuschland liegen die Friedhoefe nicht nur meist ausserhalb, sondern gaenzlich fernab, manchmal sogar tief im Wald zwischen den Baeumen. Einserseits geht einem ein Schauer den Ruecken hinunter, wenn man das Alter der Personen liest. Maenner scheinen zu ueberwiegen, aber dieser Eindruck kommt vor allem dadurch zustande, dass es sehr viele junge Maenner sind, die noch nicht einmal das 30. Lebensjahr erreicht haben. Da sind zum Einen die Soldaten der „Abenteuer“ in Tschetschenien. Zum anderen Unfalltote und dann aber auch Opfer von Gewalttaten, nicht selten sicherlich auch Gewalttaeter selbst. Wenn man den Kirover Friedhof sieht, dann kann man sich leicht ausmalen, wie die MafiaFriedhoefe in Ekaterinburg aussehen: Neben einigen kleineren Graebern stehen Ueberlebensgrosse Grabsteine mit z.T. farbigen Darstellungen der Verstorbenen. Manche aeltere zeigen die Verstorbenen in Uniform oder Berufstracht. So z.B. ein Arzt mit Haube und Kittel, ein angesehener Mann der Stadt. Daneben ein ca. 1.80m messener Grabstein, darauf ein junger Mann mit Lederjacke und cooler Pose. Eine Zigarette und die Autoschluessel in den Haenden. Solche Darstellungen zeichnen typischerweise Graeber von MafiaAngehoerigen aus. Und von denen gibt es hier einige.

russ grab

Typischer Russischer Friedhof

Ein anderer Umstand, der einem erschaudern laesst, ist die sprichwoertliche „Lebendigkeit“ der Friedhoefe. Oft leben Menschen, Obdachlose hier, die jegliche soziale Bindung an die Gesellschaft verloren haben. Auch bandenartige Gruppierungen wurden oft beschrieben, sogar Kannibalismus, wobei keinesfalls die frisch Besttatteten ausgebuddelt wurden, sondern Besucher des Friedhofs Opfer wurden. Die Gebeine wurden erst spaeter gefunden. In der Regel trauen sich die Besucher nur in Begleitung eines oder besser meherer maennlicher Begleiter auf den Friedhof – traurig und gruselig zugleich.

Am letzten Tag machen wir einen Ausflug nach Velikorezkoje, einem alten Pilgerort rund 80 m nördlich von Kirov. Das Wetter ist regnerisch und windig als wir starten, doch schon wenige Kilometer hinter Kirov bricht die Wolkendecke auf und wunderbare Sonne erhellt nun unser Gemüt. Die Straße führt Richtung Norden nach Syktyvkar, der Hauptstadt der nördlich gelegenen Republik Komi. Über 400 km sind es bis dorthin, aber unser Ziel liegt viel näher. Je weiter nördlich man kommt, desto dünner ist die Region besiedelt. Oft finden sich nur Gehöfte am Strassenrand. Wir biegen an einer großen Überlandkreuzung nach Vilikorezkoje ab und passieren genau hier das Wrack eines ausgebrannten LKWs, der neben der Strasse steht. Hier muß sich vor ein paar Wochen ein grausamer Unfall ereignet haben. Das Fahrerhaus des LKW ist total deformiert, das Wrack total ausgebrannt. Direkt an der Kreuzung steht so etwas wie eine Warnung: die Reste eines Auto-Auspuffs mit ein paar Autoteilen formen ein Kreuz. Am Boden liegt die Tasche eine Kindes mit Schulheften und einem Schuh eines Inline-Skaters. Der Anblick ist grausam. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite auch noch ein Kreuz mit Autotrümmern… Russland gehoert zu den Laendern mit den meisten Verkehrstoten. Wer einmal bei Youtube „Crazy Driving Russia“ oder Aehnliches eingegeben hat bekommt gleich tausende von Videos mit lustig bis grausamen Verkehrsunfaellen aus Russland gezeigt. Die Gruende sind sicherlich vielfaeltig, aber schlechter Zustand von Strassen und Fahrzeugen sowie Alkoholeinfluss am Steuer sind nicht von der Hand zu weisen.

Bedrückt fahren wir weiter, werden aber durch die wunderschöne Landschaft und den Sonnenschein auf andere Gedanken gebracht. Die Landschaft ist hügelig und die Strasse zieht sich wie ein Regenwurm über die Gipfel der Hügel durch den Wald. Kein Dorf, nur hin und wieder ein paar Gehöfte. Dann sind wir da, in einem Ort, dessen Erscheiningsbild von sakralen Bauten geprägt wird. Wir stehen vor zwei Kirchen, die auf einer Wiese stehen.

 

kirov-vilikor

Kirov – Velikorezkoje

Direkt daneben ein Mahnmal für die Rotarmisten, die im „Großen Vaterländischen Krieg“ – so wird in Russland der Zweite Weltkrieg genannt – gefallen sind.

russ denkmal vilokorez

Rotarmist und Kirche – ein ungleiches Paar

Es ist immer wieder erstaunlich, wie talentiert der sowjetische Machtapparat war, selbst in kleinsten Siedlungen Natur und Ortschaft zu „veredeln“, selbst wenn es nur durch ein Soldatendenkmal oder einen einfach so aufgestellten Panzer handelt. Das war sicherlich beabsichtigt, vor allem an so einem Pilgerort. Ironischerweise wurde der Sodat so aufgestellt, dass er die Kirche anschauen muss, und -da er kleiner ist- muss er sogar zu ihr aufschauen. Die Luft ist warm, in der Sonne liegen ein paar Hunde um einen Schaschlyk-Stand herum, an dem ein aelteres Ehepaar Speisen zubereitet. Es riecht herrlich, aber wir setzen unseren Spaziergang weiter Richtung Fluss fort. Immer wieder passieren wir ganze Familien, die am Wegesrand picknicken. Velikorezkoje selbst ist nur eine winzige Siedlung mit einem kleinen Kiosk mit einem kleinen Sortiment. Die Besuchermenge duerfte dieEinwohnerzahl deutlich uebersteigen

fluss

Am Fluss Velikaja

Der Ort ist ein Wallfahrtsort fuer Menschen aus dem gesamten oestlichen Teil des europaeischen Russlands. Zum Teil wandern die Pilger zu Fuss von dem gut 600 km entfernten Kazan oder Nizhny Nowgorod hierher.

fluss 2

Auch wenn gerade eine Taufzeremonie stattfindet und einige Leute ein- und ausgehen, so ist die Athmosphaere in der Kirche und auch der kleinen Siedlung von Ruhe gepraegt. Es ist angenehm warm, Voegel und Insekten sind zu hoeren und der Spaziergang zum Fluss bringt Entspannung. Am Abend erreicht uns noch ein Anruf. Igor hat sich einen Zeh gebrochen. Irgendwo ist er „gegengerammelt“, mit dem „grossen Onkel“. Im Krankenhaus hat man ihm einen Gips um Fuß und Unterschenkel geklatscht und damit kann er jetzt natürlich nicht Autofahrnen. Also fahren wir gegen 22 Uhr zu der Klinik, die sich ausschliesslich mit Traumata befasst. Igor sitzt vergnuegt auf der Bank und wartet unter einer Neonroehre. Er freut sich, dass wir ihn abholen. Ob er irgendwelche Dokumente oder Roentgenbilder bekommen habe? „Net“, warum auch?

Wenn die Fraktur falsch verheilt, dann koennen Arthrose mit Schmerzen die Spaetfolge sein. Und die ihm versprochenen drei Wochen sind auch ein Witz. Immerhin braucht bei einem Erwachsenen ein Knochenbruch in der Regel sechs Wochen. Und eine Thromboseprophylnaxe? Igor guckt mich an und lacht „Ach was! Wozu? Das ist Russland!“.

vilikorez

Wallfahrtsort Velikorezkoje

Ich bitte ihn, dass wir nach den Bildern fragen. Da er keine Kruecken bekommen hat, humpelt er in unser Begleitung zum Zimmer des Doktors. Ich werde als deutscher Kollege angekuendigt, doch bevor wir das Zimmer betreten koennen, humpelt ein anderer Patient auf einem Bein aus dem Zimmer heraus. Ob das der Doktor fuer die Zehen ist? Geschmeidig folgen wir unserem humpelnen Igor in das Zimmer hinterher. Dort sitzt an einem grossenSchreibtisch der diensthabende Traumatologe. Nach russischer Tradition ist er mit Kittel und einer Haube bewaffnet, die wie ein Mix aus Badekappe und Kochmuetze erscheint. Kurz darf ich nach einem Haendedruck das Bild sehen und mit dem Handy ein Foto schiessen. Na gut, die Behandlung ist halt den Lebensumstaenden in diesem Land angepasst.

igor zeh

Igors Zeh

Aber wenigstens eine Thromboseprophylaxe koennen wir ihm schmackhaft machen. An der Pforte bittet er uns noch kurz anzuhalten, er habe eine besondere Medizin im Kofferraum seines Autos: Wodka natuerlich! Er laesst die Beifahrer-tuer offen, humpelt zu seinem Auto und genau in diesem Augenblick erspaet das blau verzierte Geaeug eines herannahenden Betrunkenen die offene Tuer. Wie magisch angezogen steuert der Trunkenbold immer am Rande des Zusammenbruchs aber trotzdem zielstrebig die offene Beifahrertuer an. Ich versuche Igor noch etwas zuzurufen, aber dieser kommt schon auf einem Bein herangehumpelt, wirft sich mit seinem Gewicht gegen den Betrunkenen und ruft „Das ist mein Taxi!“. Der Betrunkene stutzt und schon hat Igor die Tuer zugeworfen und wir koennen fahren.

 

4 Nach Udmurtien zu „Opa Kalashnikov“

Am naechsten Tag geht es los, die Rueckfahrt steht an. Eigentlich wollten wir schon viel eher los, und noch etwas im Ural herumreisen, aber wir hatten noch etwas mehr Zeit mit der Familie verbringen wollen. Am meisten haette mich ja der weiter noerdlich gelegene Nordural oder Subpolarural interessiert, aber dieser ist einfach zu weit entfernt und wir haben auch nicht die richtige Ausruestung dazu. Auch der interessante Suedural ist mit seinen imposanten Bergen und Felsformationen zu weit weg. Na gut, es nutzt alles nichts. Die liebliche Mittelgebirgslandschaft erinnert mich allerdings zu sehr an Deutschland, manche Berge erinnern mich eher an den hohen Flaehming als an ein Mittelgebirge. Das ist nichts aufregendes fuer mich – dachte ich.

udmurt

Auf nach Udmurtien

Wir wollen nicht gerne die gleiche Strecke fahren und haben gehoert, dass Ufa ganz huebsch sein soll. Also suche ich auf dem Strassenatlas so etwas wie „Bundesstrassen“ und Hauptstrassen heraus. Die Strecke soll uns ueber Izhevsk nach Ufa fuehren, entlang der auf dem Atlas gut markierten Strassen fuehren. Etwa 750 km liegen bis Ufa vor uns. Immerhin sind es weniger als auf der Hinfahrt. Wenn es etwas interessantes zu bestaunen gibt, uebernachten wir vielleicht irgendwo unterwegs noch einmal, je nachdem, wie rasch wir vorwaerts kommen. Richtung Suedosten geht es hinaus aus der Stadt. Die Sonne scheint, schoene Wolken und herrliche Natur. An einem Lavendelfeld halten wir an. Man sollte mehr Zeit einplanen – ein Gedanke, der uns noch oefte kommen wird, auch wenn kein Hochgebirge oder spektakulaere Schluchten weit und breit vorhanden sind.

blumenmeer

Olga badet im Blumenmeer

Allerdings wird unseren Plaenen noch im Kirovskaya Oblast ein Strich durch die Rechnung gemacht. Im Dorf Falyonki endet die asphaltierte Strasse – obwohl es eine Hauptstrasse in das naechste „Bundesland“ ist! Auf der Karte ist weiterhin die nette rote Strasse eingezeichnet. Fortan geht es auf einer zunaechst guten Piste weiter Richtung Udmurtien. Meine Hoffnung, dass die Strassen dort besser sind, zerschlagen sich schnell. Die Piste degeneriert zu einem Feldweg, der bei Regen sicherlich nicht mehr passierbar ist. Doch wir haben Glueck, es bleibt an diesem Tag trocken.

udmurt strasse

„Hauptstrasse“ in der Udmurtischen Republik

So langsam faengt mir die Reise an Spass zu machen. Sorgen habe ich nur um das Auto. In Kirov hatten wir den Steinschlag auf der Windschutzscheibe billig aber gut reparieren lassen koennen. Ich hoffe allerdings, dass jetzt nicht noch irgendetwas anderes hinzu kommt. Irgendwann, nach etwa 50 km haben wir dann wieder Asphalt unter den Raedern und es geht etwas schneller vorwaerts. Durch liebliche Natur, die in der Nachmittagssonne angestrahlt wird fahren wir Richtung Izhevsk. Uns ist bereits jetzt klar, dass wir dort uebernachten muessen, weil es nach Ufa einfach zu weit ist. Auch hier fahren wir durch eher einsame Doerfer, kleine Fluesschen, die in den Feldern und Wiesen Maeander bilden. Der Verkehr ist eher spaerlich, die Orienterung aufgrund der unzureichenden Ausschilderung spo manches Mal nicht einfach. Doch wir schaffen es.

udmurt landsch

Liebliche Landschaft, Udmurtien

Gegen Abend kommen wir dann endlich in Izhevsk an. Es ist bereits dunkel und die Suche nach einem geeigneten Hotel bereitet ueberraschenderweise Schwierigkeiten. Schliesslich kommen wir im Hotel „Gostiniza Zentralnaya“ unter, wie der Name sagt zentral gelegen. Das ist es auch. Schraeg gegenueber das Park Inn Hotel, gleich davor ein Restaurant, das mit der deutschen Aufschrift „Brauplatz – Restaurant, Brauerei“ wirbt.

Unser Hotel war anscheinend frueher mal ein Organ des kommunistischen Koerpers, denn die Plattenbauweise verstrahlt foermlich einen sowjetischen matten Glanz. Das Interieur unseres Zimmers sei „noch nicht ganz fertig“, sagt uns die Dame am Empfang. Uns ist das egal, wir wollen ein Bett. Im Zimmer angekommen fuehlen wir uns allerdings schon ein paar Jahrzehnte zurueckversetzt. Die Tapete, die Betten, der Teppich. Alles, wie bei Breschnew wahrscheinlich. Die Toilette toppt alles: Die Dusche faellt uns fast entgegen, die Toilettenspuelung wagt man gar nicht anzuschauen, geschweigedenn anzufassen, der Putz rollt sich von den Waenden. Na dann, gute Nacht!

izhevsk hotel 2

Übernachten im realexistierenden Sozialismus

 

Am naechsten Morgen laufen wir ein wenig durch die Stadt. Links von unserem Hotel steht ein grosses Gebaeude im sowjetischen Stil des letzten Jahrhunderts. Eine Flagge auf dem Dach kennzeichnet es als Ministerialgebaeude.izhevsk hotel 1 Das Wetter wieder herrlich. Sonne und Wolken in einem Mix. Zwischendurch mal ein kurzer Schauer. Wir wollen zum Museeum eines der beruehmtesten Bewohner dieser Stadt: Mikhail Kalashnikov, dem Erfinder der wohl am meisten verbreitetsten Waffe des letzten Jahrhunderts. Im „Grossen Vaterlaendischen Krieg“ schwer verwundet, entwickelte er eine sehr effektive Waffe, die auf allen Kontinenten in erweiterter Form noch heute Verwendung findet.Interessanterweise wurde aus der „Sowjetisch besetzten Zone“ (SBZ), der spaeteren DDR nicht nur ganze Waffenfabriken abgebaut und in der Sowjetunion wieder aufgebaut, sondern die gleichen Kontrukteure und Ingeneure zwangsweise mit umgesiedelt, nun im Dienste des ehmaligen Gegners, tief in Russland. Herr Kalashnikov, der 2013 gestorben ist, hat sich ein interessantes Mahnmal geschaffen. Ueberall sind Waffen ausgestellt und die Entwicklung der Waffe nachvollzogen. Auch private Gegenstaende und Fotos aus der Familie sind ausgestellt.

izhevsk minist

Ministerium in Izhevsk

Trotzdem erwaermt sich mein Gefangen vom Charme der Vergangenheit Herz nicht bei dem Anblick des vielen kalten Metalls, das im Endeffekt nur eine Stufe auf der Veredlung der Grausamkeit darstellt. Soviel philosophischer Gedanke sei mir an dieser Stelle gewaehrt. Daher nutze ich auch nicht die Gelegenheit mit einer AK-47 („Awtomat Kalashnikova“) scharf zu schiessen.

5 Durch’s wilde Bashkortostan

Wir machen uns auf den Weg nach Ufa, der Hauptstadt der Bashkirischen Republik. Die Strecke betraegt etwa nur 400 km, aber noch wissen wir nicht, dass wir fuer die naechsten 200 km etwa 5 Stunden brauchen werden. Wir kommen gut voran, bis wir auf einer anderen „Hauptstrasse“ weiterfahren muessen. Es geht durch eine huegelige Landschaft, die einen manchmal an die Schwaebische Alb erinnert. Wir passieren herrliche Seen, in denen sich die Sonne spiegelt. Schade, dass wir weiter muessen.

djungel 1

Durch den „Djungel“ nach Ufa

Bald degeneriert auch diese Strasse wieder zu einer Piste. Durch tiefen Wald, vorbei an Suempfen geht es weiter nach Suedosten. Baeche und kleine Fluesse ziehen durch den dichten Wald. In Deutschland hatte ich immer den Eindruck durch einen Park zu laufen, dort scheint jeder Baum abgemessene 1,20m vom anderen entfernt zu stehen, und wehe er tut’s nicht! Dann wird der abgeholzt und rausgeschleift aus dem Forst! Hier ist es wie im Djungel, man kann kaum einen Schritt in das Dickicht hinein gehen. Riesige Insekten kreisen um die Pflanzen, die Muecken attackieren uns pausenlos.

djungel 2

Herrliche Natur

Immer wieder kommen uns riesige „Ural“-LKW entgegen, schwer beladen mit Baumstaemmen. Die Piste fuehrt uns immer wieder an einem aus den Arabischen Golfstaaten gewohnten Bild vobei, wenn auch in einer anderen Umgebung: hier in Bashkortostan und anderen Regionen des Urals wird Oel gefoerdert. So stehen sie dann mitten auf einer Waldlichtung, die bei uns genannten „Esel“, weil die Silhouette vor hellem Hintergrund an nickende Esel errinnert.

donkeys

Russland ist reich an Rohstoffen: Oelpumpen in Bashkortostan

Die Strasse wird schlechter, es beginnt leicht zu regnen, aber zum Glueck hoert es bald wieder auf. Auf dem sandigen Boden haetten wir schlechte Karten. Ueberhaupt machen uns mehr die Schlagloecher zu schaffen, die tiefe Krater in die Piste gegraben haben. Fuer die naechsten 50 km kommen wir nur mit etwa 15-25 Stundenkilometer vorwaerts. Irgenwann haben wir es dann aber geschafft und auf einer guten asphaltierten Strasse naehern wir uns rasch Richtung Ufa.

regenbogen

Sonne, Wolken, Regenschauer. Von allem etwas.

 

6 Ufa

Ufa, die Hauptstadt der Republik Bashkortostan, erreichen wir erst wieder im Dunkeln. Immerhin finden wir dann aber ein Hotel und nach einem Abendessen bei einer amerikanischen Fastfood-Kette fallen wir auch schnell ins Bett. Wir wollen zwei Naechte in Ufa bleiben, Bekannte hatten uns gesagt, dass es eine schoene Stadt sei. Am naechsten Morgen begruesst uns erst einmal Regenwetter. Bei dem Blick aus dem Fenster moechte man gleich wieder abreisen: Die Nacht hatte einem die Sicht auf die Plattenbauten erspart. Naja. Zudem muessen wir uns ein anderes Hotel suchen, weil unser Zimmer nur fuer diese Nacht verfuegbar ist. Nach einigem Herumsuchen finden wir dann eine recht preiswerte Alternative. Im 14. Stock eines Hochhauses hat eine Unternehmerin mehere Appartments eingerichtet. Um dorthin zu gelangen, muss man aber erst ueber eine Art Aussentreppe vom 13. in den 14. Stock gehen. Das hat doch etwas!

ufa 1

Ausblick von unserem Apartment im 14. Stock

Wir machen uns auf in die S tadt. Diese hat ein historisch anmutendes Zentrum mit vielen alten Gebaeuden. Nicht zu uebersehen sind die vielen Akademien, darunter auch eine fuer Luft- und Raumfahrt. Eine Bueste von Juri Gargarin darf natuerlich auch nicht fehlen. Plattenbauten wie in der Landsberger Allee in Berlin (frueher Stalinallee, ein wirklich passender Name) fehlen natuerlich auch nicht. Die Stadt ist ein typischer Mix aus alten sozialistischen Elementen und neu restaurierten Resten der Zarenzeit. Garniert mit ein paar schoenen Parks und Fabrikgebaeuden, Kirchen und vor allem Moscheen, hat sie einen besonderen Reiz, auch wenn es schoenere Staedte gibt. Im Uebrigen ist Ufa der Sitz der obersten muslimischen Geistlichkeit im gesamten europaeischen Russland, Sibiriens und Kasachstans.

ufa 2

Mix der architektonischen Stile in Ufa

Hoch ueber dem Fluss Belaja steht imposant das Denkmal Salawat Julajews, der baschkirische Freiheitskaempfer und Volksdichter, der Hauptvolksheld Bashkiriens. Er war an den Bauernaufstaenden im 18. Jahrhundert beteiligt und ihm zu Ehren wurde die hoechste Reiterstatue in ganz Europa errichtet. Leider ist mir nicht die tatsaechliche Hoehe bekannt. Wir machen zu Fuss unzaehlige Kilometer, immer auf der Suche nach interessanten Orten. Wir streifen kreuz und quer durch den moderneren, wie auch durch den historischen Stadteil, welcher allerdings recht ueberschaulich ist. Dahinter macht sich ein riesiger Moloch aus neuen Stadtvierteln breit, der mit seinem Verkehr jeden Besucher auf die Probe stellt, wenn nicht gar hinausteibt.

ufa 3

Freiheitskaempfer und Held Bashkortostans: Salawat Julajew

7 Seen, Waelder und strahlende Landschaften

Auf unserer Rueckfahrt beginnen wir von Ufa aus unsere letzte Etappe. Sie fuehrt uns durch die Nordhaenge des suedlichen Urals, der hier wieder etwas gebirgigeren Charakter hat, zu einer Seenplatte bei Chelyabinsk. Diese Route verspricht im Gegensatz zur Autobahn Chelyabinsk-Ekaterinburg etwas interessanter zu werden. An einer Autobahnraststaette treffen wir auf Thomas aus Sachsen, der mit seinem Motorrad Richtung Baikalsee unterwegs ist. Ein Jahr hat der Maschinbauingeneur in der Antarktis gearbeitet und „waermt“ sich jetzt in Russland wieder auf. Wir fahren noch ein paar Kilometer zusammen, dann zieht er an uns vorbei. Wir wiederum ziehen auf der M5, einer der meistbefahrendsten Strassen Richtung Osten. Dies ist eine Art Transkontinentale, deren Fortsetzung bis in den Fernen Osten Russlands fuehrt. Nur knappe 1900 km sind es bis nach Moskau, mehere tausend Kilometer bis zum Baikal, nach Wladiwostok oder gar Magadan, „vis-a-vis“ von Kamtschatka. Zwischen vielen Kilometern liegen wenn ueberhaupt nur kleine Siedlungen, eher findet man mal ein Motel, ein paar Verkaufsstaende – oder auch Prostituierte, die am Wegesrand auf wahrscheinlich vor allem LKW-Fahrer warten. Auf neu geteerter Strasse, deren Teer noch nicht getrocknet hat schmatzen die Reifen. Ausweichen kann man nicht.

birkenwald

Birkenwald zwischen Miass und Ozorsk

Bei Miass biegen wir auf eine weniger befahrene Strasse ab. Beim kurzen Vertreten der Beine sehen wir dann auch einen Teil der neuen Teerstrasse an unserem Auto kleben: Schlieren von fest haftenden Teer haben unsere rechte Seite verziert. Na toll!! Natuerlich kriegen wir den Mist nicht ab, also muessen wir uns in Jekaterinenburg darum kuemmern. Von jetzt an fahren wir durch schoene Birkenwaelder und eine nette Seenlandschaft. Wenn wir mehr Zeit haetten, koennten wir jetzt wunderbar am Rand eines solcher Seen entspannen, doch wir wollen am Abend in Jekaterinbrug sein. Ploetzlich wandelt sich das Bild abrupt und brutal. Die Idylle wandelt sich in ein scheinbar verseuchtes Gebiet. Wir merken es am Wasser der Seen zuerst, es bekommt ein unnatuerlich roetliches Aussehen. Die Vegetation ist verschwunden, brauner, roter, schwarzer Erdboden zeigt sich. Wir fahren durch eine Mondlandschaft, und beim Recherchieren im Internet zeigt sich: Hier geschah in den 50er Jahren die erste nukleare Katastrophe! Das Unglueck von Kyschtym eignete sich 1957 in einer sowjetischen Nuklearanlage, als Kuehlwasser fuer abgebrannte Uranbrennstaebe durch ein Leck auslief und es zu einer chemischen (nicht nuklearen) Reaktion mit Explosion kam. Damals wurden Kyschtym

Kyschtym

Katastrophenregion Kyschtym heute

riesige Mengen von radioaktiven Substanzen freigesetzt, die jedoch nicht in groessere Gebiete fortgetragen wurden. Dennoch wird die Schwere des Ungluecks, dass bis in die 70er Jahre hinein verheimlicht und erst durch einen emigrierten russischen Journalisten und Dissitenten namens Schores Alexandrowitsch Medwedew publik wurde, wie die Katastrophen von Tschernobyl und Fukoshima maximal eingestuft. Und wir jetzt mitten drin, na super! Das wir das nicht vorher wussten! Nun gut, ich denke nicht, dass wir grossen Schaden bei einer Durchfahrt davon getragen haben. Die Schwierigkeit fuer uns vorher bestand darin, dass es keine geeigneten Reisefuehrer in Russland gibt, schon gar nicht auf Englisch.

Kyschtym 2

Hier leben und arbeiten immer noch Menschen

Wir machen ein paar Fotos. Die Umgebung ist gruselig. Hier arbeiten und leben immer noch Menschen! Das eigentliche Katastrophengelaende ist gesperrt, ebenso wie die nahegelegene Stadt Ozersk. Auch hier leben noch Menschen…

 

8 Zurueck in „Jeka“

Zurueck in Jekaterinenburg geniessen wir die letzten Tage unseres Urlaubs und die lebendige Stimmung, die diese Metropole verstroemt. Wir reinigen das Auto in einer speziellen Reinigung, die problemlos und schnell die Teerschmieren beseitigt. Das Auto ist jetzt wie neu! Naja, nicht ganz, da ist immer noch der Kratzer vom allerersten Tag, an dem ich beim Rueckwaertsfahren einen tuerkisen Blumenkuebel gestreift habe. Also fahren wir aus der Stadt in ein Waldstueck, auf der Suche nach etwas Dreck. Ja ganz recht, ich will auf einem Waldweg durch ein paar Pfuetzen reiten und mit etwas handwerklichem Geschick klebt der Dreck an der richtigen Stelle und der Kratzer wird nicht bemerkt. Wir haben Glueck und finden bei einer „Datschen“-Zufahrt einen Waldweg, der uns durch herrlichen Wald fuehrt. Auch ein paar nette Pfuetzen mit Schlamm sind dabei, also nichts wie rein, aber zu viel darf es auch nicht sein! Fast bleiben wir noch stecken, aber ein zufaellig daherkommender Autofahrer springt ungefragt aus seinem Wagen und schiebt uns kurzerhand an. Nur: den Kratzer sieht man immer noch! Es hilft nichts, gefuehlvoll und mit Liebe zum Detail modelliere ich den schwarzen, modrig richenden Schlamm an. Von unzaehligen Muecken angenagt aber zufrieden bestaune ich mein Werk, Olgas Applaus ist mir sicher. Schliesslich geht auch die Rueckgabe anstandslos vonstatten – puh, Glueck gehabt!

Am letzten Abend flanieren wir durch die Stadt und geniessen die lebendige Athmosphaere. An dem „Deutschen Brauhaus“ gehen wir noch vorbei, aber einer leckeren Pizza koennen wir nicht widerstehen.

 

Brauhaus

Wieder ein „Deutsches Brauhaus“

Wir geniessen die letzten hellen Stunden um Mitternacht herum und vom angleuchteten Ipatjew-Haus aus den Ausblick auf das Wasser.

Jeka 1

Mitternachtsstimmung in Jeka

Am naechsten Tag steigen wir ins ins Flugzeug und treten den Heimweg an. In wenigen Stunden Flug, mit herrlicher Aussicht auf die iranischen Gebirge erreichen wir die Schwuele des Persischen Golfes.

flug ueber iran

Flug ueber den Iran

 

Fazit

Um es kurz zu machen: Nein, wir hatten keinen Urlaub. Erstens, weil wir viel in Kirov bei der Familie zu tun hatten. Zum anderen ist Russland keine wirkliche Urlaubsdestination. Russland ist anders. Natur, Menschen, ja alles scheint nach etwas anderen Regeln zu funktionieren, als wir es in Europa oder in der restlichen westlichen Welt gewohnt sind. Das Gefuehl, den Kraeften scheinbar ausgeliefert zu sein und nur ein unbedeutender unverstaendiger, verweichlichter Fremdkoerper zu sein, erschuettert das egozentrische Weltbild des westlichen Reisenden mit seiner moralischen wie auch materiellen Anspruchshaltung. Russland fordert Einen heraus. Es fordert, aber gibt auch viel, aber es moechte entdeckt, erlebt und nicht konsumiert werden. Mit den vielen Besonderheiten und Schwierigkeiten es das Reise und Erleben einerseits zwar anstrengend, aber eben auch einmalig interessant und spannend.