Ein Tag für groß und klein

Es ist Dienstag, zweiter Tag der Woche. Eigentlich nichts besonderes, aber heute wird unsere kleine Tonia (wegen ihrer Größe auch “Mini-Maus” genannt) operiert: sie soll kastriert werden. In den vergangenen Wochen hat sie uns fast wahnsinnig gemacht. Alle 2-3 Wochen hat sie für etwa 5 Tagen einen ganz irren Gesichtsausdruck bekommen und naja…

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Tonia, alias “Mini-Maus”, nach der OP

Essen tut  sie in dieser Zeit noch viel weniger als sonst und sie selbst scheint sich auch nicht gerade zu amüsieren. Zu allem Überfluss begann sie in den letzten Tagen dann auch noch die Ecken und den Fussabtreter zu “berieseln”. Kurzum: es ist Zeit für “Schnippi-schnappi. Da ich auf Arbeit bin ist es an Olga die kleine Maus einzufangen und und mit ihr zum Tierarzt zu fahren. Gegen 11 Uhr soll sie fertig sein.

Zur gleichen Zeit werde ich auf Arbeit von meiner Chefin gebeten “mal mitzukommen”. Ich denke mir nichts dabei. Auf dem Weg in den zweiten Stock erklärt sie mir, dass heute der Drogentest sei. Ein Urintest. Immer noch denke ich mir nichts dabei, immerhin war das ja auch bei der Bundeswehr und bei Einstellungsuntersuchungen eine Routineangelegenheit. Im zweiten Stock haben die Psychologen und die Krankenschwestern der angeschlossenen psychatrischen Abteilung (die aber stillgelegt wurde/wird) ihre Räume. Es geht durch verschlossene Milchglastüren, die sich mit einem Code öffnen lassen. Wie praktisch denke ich mir, Psyche und Drogen gehören doch irgendwie zusammen. Sie stellt mir Åsa (sprich “Osa”) vor, eine rüstige Mittfünfzigerin. Sie kommt von einem Institut, das für die Gesundheutsbehörte des Landes Dalarna die Untersuchungen durchführt. Wir stehen in einem Raum für Desinfektion und sie erklärt mir die Prozedur: Ich bekomme einen Becher, den ich hoffentlich etwas füllen kann, und stelle den dann in die Luke. Sie zeigt auf eine recht große Öffnung. Dahinter eine vollständig verspiegelte Toilette. Ziemlich groß denke ich, und genau in der Mitte die Toilettenschüssel. Sie zeigt durch das Fenster auf das Klo: “Du setzt Dich da drauf und ich gucke Dir zu!”, sagt sie mit ernster Mine. Ein kurzes Lächeln und ich denke mir “wie jetzt?” Ja genau, ich habe richtig verstanden! Das Fenster bleibt offen und sie guckt mir absichtlich zu! Na endlich: Ich stehe bzw. sitze mal richtig im MIttelpunkt. Aber so habe ich mir das nicht gedacht! Und ausserdem war ich vor 10 min noch aufm Klo. Na super…

Ich werde von ihr in die Toilette geführt, die recht groß ist, vielleicht 15-20 Quadratmeter. An allen vier Wänden Spiegel. In der Mitte, ganz verlassen die aufgeklappte Toilette. So muss man sich fühlen, wenn man zum elektrischen Stuhl geführt wird, denke ich mir. Jetzt stehen wir am “Beckenrand”. Sie holt ein kleines blaues Fläschen hervor und träufelt eine blaue Flüssigkeit in das Klo. “Das ist die Farbe, mit der man sehen kann, dass auch alles mit rechten Dingen zugeht”, sagt sie,

Typisch schwedisch, denke ich mir. Anstatt zu sagen “damit niemand mit dem Becher das Wasser rausangelt anstatt die Pisse abzugeben” wählt sie sorgsam hygienisch einwandfreie Worte. Aber wann soll man das denn machen, das Wasser rausholen? Sie guckt doch die ganze Zeit zu! Etwa, zwischen zwei Wimpernschlägen?

Egal, sie verschwindet im Raum neben der Toilette, löscht das Licht, schielt durch das Fenster und wartet. Na gut, also wie mach ich das jetzt…? Hose runter, und erst einmal hinsetzen. Und jetzt? Einfach aussitzen? Den Becher muss ich unter den Kassak (Oberteil)  ziehen und hoffe, dass ich noch einen Tropfen in der Blase haben. Mir gehen allerlei blöde Sprüche durch den Kopf. “Na, schon mal so etwas gesehen?” oder “Jetzt wirst Du aber gleich Augen machen!”. “Kannst Du mir mal helfen…?”  ist aber auch nicht schlecht. Ach, ich lasse es bei den Gedanken, die mich zum Grinsen bringen. Hoffentlich denkt sie jetzt nichts Falsches…

Ich versuche zu drücken und wringe schließlich doch etwas heraus. Jetzt bloß nicht beim rausholen den Becher verwackeln und das so wertvolle Forschungsobjekt auf dem Kachelboden verschütten, oder schlimmer noch die Klinikkleidung damit benetzen. Es geht alles gut. Das Fenster ist in gut einem Meter Reichweite. Wie komm ich da jetzt ran? Aufstehen und alles preisgeben? Auf den Boden stellen und (bei meinem Talent) alles mit einem Fuß umkippen?

Ich strecke den Arm aus so weit es geht und stelle den randvollen Becher auf die Fensterkante. Muss sie sich schon etwas vorsehen, wenn sie ihn nimmt, ist halt Berufsrisiko. Ich “packe ein” (Mann, was für ein gewitztes Wortspiel) und gehe zu ihr in den Nebenraum. Sie zeigt mir demonstrativ, wie sie drei Röhrchen füllt. Dabei starrt sie sie an wie ein durstiger Wanderer in der Wüste, der plötzlich ein kühles Bierchen gereicht bekommt. Naja, wer’s braucht… Jedes wird beschriftet und in einen Briefumschlag steckt. Damit eben alles “seine Ordnung hat”, ich könnte ja behaupten, mir sei eine andere Probe untergejubelt worden. Bevor ich gehe, platzt es doch noch aus mir heraus, und ich frage sie, ob sie nur das mache, und wie denn das so sei… Nee, aber mal Spass beiseite. Sie hat es sicherlich nicht leicht und zum Glück auch noch andere Aufgaben, sagt sie. Die Proben aus ganz Schweden werden übrigens an das Karolinska Institut nach Stockholm geschickt. Ich gehe und draussen stehen schon die nächsten Kandidaten bereit: meine Kollegin Maria, die später offenbart “es im Stehen gemacht” zu haben, und Bert, der nur in sich hineingrinst…

Ich komme nach Hause und finde eine kleine sehr aufgeregte Miezekatze vor: Tonia, etwas durcheinander, strampelt mit ihrer Halskrause durch die Gegend. Sie darf sich jetzt die nächsten Tage nicht am Bauch putzen. Mit dem übergrossen Plastikschirm sieht sie wie eine Satellitenschüssel mit Katzengesicht aus. Sie ist aufgedreht und rennt durch die Gegend, zumindest soweit sie es kann: ständig macht es “Klatsch” und sie ist wieder mit ihrem “Geweih” irgendwo gegengelaufen…

 

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“Like a satellite…” – irgendwie errinert sie mich an Lena…

 

Wintermärchen

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Ljugaren-See

Vor ein paar Tagen wurden wir zusammen von einer Kollegin eingeladen. Sie lebt zusammen mit ihrem Hund “Kaxa” und meheren Pferden auf einem Hof in einem kleinen Dorf nördlich von Rättvik. Es schneite wunderbar und wir konnten einen herrlichen Spaziergang zum zugefrorenen Ljugaren-See machen. Da es seit Wochen unter Null gewesen war, war der See sicher zu begehen.

Zwei meiner anderen Kollegen, die auch mit von der Partie waren, griffen sich einen Schlitten, der mich eher an einen Rollator mit Kufen erinnerte als an einen Schlitten. Eine kleine Ablagefläche, Handgriffe und als Bremsen sogar zwei Metallstäbe, die man bei Bedarf in den Schnee schieben kann.

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Einer meiner Kollegen auf dem “Rollator-Schlitten”

Meine Kollegin heisst mit bürgerlichem Vornamen “Back-Marit”. Die Schweden lieben Doppelnamen. Es gibt sie in allen Farben und Kombinationen, auch wenn das für uns etwas exotisch klingen mag.

Nenn Dein Kind nicht Peter-Niklas!

Ein besonderer Name stellt “Peter-Niklas” dar, ein Name, den man unbedingt bei der Wahl des Namens für einen Jungen meiden sollte: es ist der liebevolle Audruck für das, was die Engländer “Willy”, die Franzosen manchmal “bite” oder die Italiener auch mal “pisello” nennen. Ja, ganz genau, das ist der kleine (oder große) “Peter-Niklas”. (Wer es jetzt immer noch nicht weiß, dem kann ich auch nicht mehr helfen…)

Back-Marit ist bereits Pensionärin, gehört aber noch längst nicht zum “Alten Eisen”. In den 90er Jahren hat sie im Rahmen der UN-Missionen in Somalia und Bosnien als Ärztin “gedient”. Mehere Embleme hängen in der Eingangshalle Ihres großen Hauses. Ehemals eine Scheune, hat sie es in jahrelanger Arbeit liebevoll ausgebaut und dekoriert. Zusammen mit ihrer 12-jährigen Hündin “Kaxa” lebt sie hier, etwa 20 km vor Rättvik in einem kleinen Dorf. Ganz alleine kümmert sie sich um ihre fünf Pferde und den Hof. Wenn man ihr so zuschaut, merkt man wieviel Energie sie noch hat und es beschleicht uns verweichlichte Großstädter, die wir mehr als 20 Jahre jünger sind, etwas Schamgefühl.

Wenn Not am Mann ist, oder sie Langeweile hat, hilft sie immer wieder in der Vårdcentral (unserem “MVZ”) aus. Das ist übrigens nicht selten. Wir haben noch drei weitere Ärzte, die nebenbei noch ihre Rente aufbessern, je nachdem wie es ihnen passt. Nicht die Altersarmut treibt sie zur Arbeit, sondern weil sie es “lustig” finden. – Mal ganz ehrlich: wo findet man das in Deutschland?

Unten am See hat Back-Marit noch einen kleinen Schuppen: ein kleines gedrungenen Hüttchen, das die Garage für ihr Boot darstellt. Ein altes Ruderboot von 1883, etwa 4 m lang und 1,50 m breit. Die anderen “Garagen”, die hier am Ufer herumstehen sind noch älter. Die ältesten stammen aus dem 15.-16. Jahrhundert.

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Boots-“Garagen”, z.T. 500 Jahre alt

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Ruderboot von 1883, noch “kein altes Eisen”

  

 

 

 

 

 

 

Draussen tollt derweil “Kaxa” durch den Schnee und genießt die Aufmerksamkeit, die sie von den Besuchern bekommt. Die ältere Hundedame ist genauso fit wie ihr Frauchen – und liebt Schnee. Immer wieder rollt sie sich hin und her, steckt die Schnauze tief in den Schnee, um diesen anschliessend durch die Luft zu wirbeln. Dann springt sie auf und tobt los.

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Die Hundeschnauze muß so tief wie möglich in den Schnee…

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…damit dieser anschliessend durch die Luft geworfen werden kann!

 

 

 

 

 

 

 

Kurz bevor wie wieder zurück sind kommen wir noch an einer alten kleinen alten Fabrik vorbei. Auch ganz aus Holz. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte hier eine Familie eine kleine Fabrik, die Flaschenzüge und andere Metallteile herstellte oder zumindest zusammenbaute. Wenn man in Deutschland an die Industrialisierung denkt, dann kommen einem gleich die Ziegelsteinbauten in den Sinn, die man in den Großstädten vielleicht noch entdecken kann. Ruß- und Ölverschmierte Gesichter auf alten Schwarz-Weiß-Fotografien, Mietskasernen, überfüllte Wohnungen, in denen die Menschen um einen Schlafplatz ringen…

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Altes (kleines) Fabrikgebäude

Und hier? Mitten in der schwedischen Prärie? Wäre interessant mehr über die damaligen Lebensbedingungen der in der Industrie tätigen Arbeiter zu erfahren, in einer Gegend, die noch heute dünn besiedelt und manchmal sogar unberührt wirkt…

 

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Kaxa: Es kann nicht genug Schnee geben!