Nico und ich stehen vor einem Geschäft und gucken den vorbeifahrenden Autos hinterher. Olga ist drinnen noch beschäftigt, aber Nico war so unruhig gewesen, daß ich mich entschlossen hatte, mit ihm raus zu gehen. Die Sonne blinzelt hin und wieder einmal schüchtern zwischen den Wolken hervor. Ein Bus hält an der Haltestelle, die sich direkt vor dem Geschäft befindet und gibt einen Teil seiner Ladung frei. Ein paar wenige Leute steigen ein. Es ist Freitag Nachmittag und die Menschen wollen ins ersehnte Wochenende. Der Bus schließt seine Türen und fährt ab.
Eine alte Dame mit Kapuze und einem Beutel schleppt sich mühevoll auf ihren Stock gestützt heran. Welcher Bus das denn gerade gewesen sei, fragt sie. Ich weiß es nicht, ich hatte darauf nicht geachtet. Jetzt fahren die doch nur noch alle 30 min und es lohne sich für sie nicht die Haltestelle zu verlassen. Wenigstens regne es nicht und es sei ja glücklicherweise keiner dieser kalten Apriltage, mache ich ihr Mut und stelle mir vor, wie anstrengend das für sie vielleicht sein mag, mit Gangunsicherheit und vielleicht Schmerzen. Ja das stimme, sagt sie und freut sich über unser kurzes Gespräch.
Nico hört dabei gespannt zu, als ob er alles verstehen würde. Dann berichtet sie über die Hitzetage der letzten Woche, wo wir 28°C hatten – und das im April! Wie das Klima sich doch ändere und die Welt und die Menschen wahrscheinlich auch. Sie verstehe das nicht, wie das in der Welt so vor sich gehe. Sie lese die Zeitung und verstehe nicht, wie es uns z.B. schon “zu gut” gehe und woanders Krieg, Elend und Hunger herrsche. Während sie spricht wirkt sie keineswegs dement, sie weiß genau wovon sie spricht und ich muß ihr Recht geben. So viele Dinge passieren und ich kann sie immer weniger nachvollziehen. Vielleicht bin ich ja langsam dement und habe jetzt eine Leidensgenossin getroffen?
Geht es Euch auch so? Der Abgasskandal und die Art, wie damit umgegangen wird (Entschädigungen in den USA, heiße Luft für die Kunden in Europa) ist nur ein Thema, das mich erstaunen läßt. Früher hat man sich doch irgendwie etwas Mühe gegeben, die Menschen wenigstens etwas elegant über den Tisch zu ziehen, sodass sie im Glauben waren, es sei alles fair gelaufen, oder?
Doch nun zu anderen, genauso “lustigen” Themen. Dieses Mal werde ich mich allerdings kürzer fassen, ich möchte ernsten Themen nicht zu viel Raum in meinem Blog geben.
- 1. Akt: Liebesgrüße aus Moskau
- And the winner is…
- 2. Akt: Ein Deja-vu rouge
- Ein bisschen hier, ein bisschen dort…
- Intermezzo: Der orange Agent
- Fazit? Selbstkritik schadet nicht – Vorsicht auch nicht
1. Akt: Liebesgrüße aus Moskau
Da ist zum Beispiel der spektakuläre Fall Skripal in Großbrittanien. Ein ehemaliger Doppelagent, der zusammen mit seiner Tochter mithilfe eines geheimen Giftstoffes umgebracht werden soll, was jedoch misslingt. Beide überleben und ganz Europa ist entsetzt über die Tat. Sogleich wird von der britischen Regierung Russland als Täter gebranntmarkt, welches natürlich seine Unwissenheit und Unschuld beteuert. Die Rethorik schaukelt sich hoch, Diplomaten werden hin- und hergschickt. Das Ganze erinnert schon irgendwie an “Frauentausch”, Gezicke inklusive. “Nowishok” soll das Wundermittel heißen, das nicht das schlaffe Fleisch erstarren läßt, sondern uns als Ganzes. Es soll nur von der Sowjetunion produziert worden sein.

Sean Connery spielte sechs mal 007 – auch im Film “Liebesgrüße aus Moskau”, dem zweiten Bond-Film (1963)
[Mieremet, Rob / Anefo, Sean Connery 1971 (cropped), CC BY-SA 3.0 NL]
Das erinnert natürlich an vergangene Zeiten und schnell spricht man von einer “Neuauflage des Kalten Krieges” oder “Kalter Krieg 2.0“. “Kalter Krieg Reloaded“ wäre auch noch ein netter Titel für einen Aktionfilm. Dabei darf man nicht vergessen, dass auch der Westen damals (und heute) unsaubere Aktionen durchgeführt hat. Nach US-Angaben ermordeten die CIA und später auch die Navy Seals während des Vietnamkrieges gezielt rund 6500 führende kommunistische Personen mit Führungsaufgaben hinter den feindlichen Linien! Nett ist das auch nicht. Die Briten haben ihre Spezialeinheiten für Spezialaufträge und die Franzosen haben mit ihrer Légion étrangère (Fremdenlegion) ja eine ganz besondere traditionelle Zirkustruppe, die gerne auf Reisen geht und im Geheimen auf anderen Kontinenten für die Grand Nation kämpft – und tötet. Also: Ball flach halten und insgesamt kann ja niemand an einem solchen Szenario aus den alten Zeiten Interesse haben. Warum dann dieses Rumgetue und Rumgezicke?
Natürlich bestätigen britische Labore die Zusammensetzung und es gebe schwer belastendes Material, das Russlands Schuld beweise. Diese Beweise seien aber so hart und brenzlig und geheim, dass man sie der Öffentlichkeit nicht präsentieren könne. Man müsse es einfach glauben. Aha…
Selbst ein deutscher Politiker, der im Radio interviewt wurde (ich weiß leider nicht mehr, wie er heißt – ich glaube er sprach im Deutschlandfunk), sagte mit Nachdruck, es müsse Russland gewesen sein und man müsse die britische Regierung unterstützen. Die Frage, ob er denn die Beweise kenne, die wie er meint unbedingt geheim gehalten werden müssten, beantwortet er mit “Nein” – er spricht also über etwas, das er nicht kennt – schickt sich das für einen Politiker? Ei, ei….. Die Journalistin fragt noch einmal nach, ob denn das auch wirklich logisch wäre. Er bleibt bei seiner Meinung. Noch Fragen?
And the winner is…
Wer sind also die Täter und Drahtzieher des Mordversuchs? Jede präsentierte Antwort sollte uns doch bitte auch mit annähernd transparenten Fakten schmackhaft gemacht werden. Dass diese dann nicht unbedingt der Wahrheit ensprechen, damit haben wir uns abgefunden. Nur: Liebe Politiker, etwas Mühe müßt Ihr Euch schon geben, ganz so minderbemittelt sind (selbst) wir noch nicht! Beweise, die wir nicht kennen, können wir nicht beurteilen und blind jemandem zu folgen… hatten wir das nicht schon mal?
Unterhaltsam ist auch die Theorie, das Gift sei in die Hände von Kriminellen geraten. Gruselig! James Bond läßt grüßen.
Der nächste Fall von zweifelhafter Seriosität ist bereits auf der internationalen Bühne präsent: Der israelische Premierminister Netanyahu legte angebliche Beweise dafür vor, dass der Iran das Atomabkommen hintergehe und heimlich weiter an der Bombe bastele. Beifall kommt natürlich aus den USA und insgesamt war es ja schon länger bekannt, dass vor allem diese beiden Akteure das Abkommen zunichte machen wollen. Laut der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA gab es aber bisher keinerlei Beweise dafür.
In jedem schlechten Krimi bringt der Verdächtige im Polizeiverhör immer den gleichen Satz: “Das müssen Sie mir glauben!”. Bin mal gespannt, wann der aus Washington kommt. Und: wie werden dieses Mal die Europäer reagieren? Und das mit dem “glauben” ist ja eh eine religiöse Sache und keine politische. Oder wie war das doch gleich mit den Massenvernichtungswaffen des Saddam H. aus Baghdad? Da wurde auch vieles geglaubt und am Ende ein noch viel größerer Schaden angerichtet. Also: “Obacht!”
2. Akt: Ein Déjà-vu rouge
Am Abend sehen wir wieder einmal die blonde Mähne des amerikanischen Präsidenten im Fernsehen. Mein Gott bin ich froh, dass er so weit weg ist und nur auf dem Bildschirm zappelt! Er kündigt Vergeltungsschläge für den aktuellen Giftgaseinsatz in Syrien an. Als diese dann in den nächsten Tagen durchgeführt werden, und ich den smarten französischen Präsidenten höre, glaube ich ein Deja-vu zu haben: Er spricht von einer “roten Linie”, die überschritten wurde. Äh Moment, das hatten wir doch schon einmal. Ja genau: der Friedensnobelpreisträger aus dem Weißen Haus hatte darüber schon einmal gesprochen, etwa 2012 oder 2013, als der Krieg in Syrien noch überschaubar und vor allem jung war. Wofür bekam er doch gleich den Friedensnobelpreis? Auch Obama hatte damals von den roten Linien gesprochen, die im Rahmen einer “wenn, dann aber!”-Rhetorik verdeutlicht wurden. Nun ja, das Ergebnis kennen wir ja: gebombt wurde weiter, hin und wieder mal mit Gas.
Wir empören uns höflich, stampfen vielleicht sogar mitdem Fuß auf. Davon werden die Menschen im Bombenhagel vermutlich nicht viel mehr profitieren werden, als von dem feuchten Klopapier, mit dem ich Nico den Hintern abwische – reine Spekulation versteht sich. Überhaupt: welche praktische Unterstützung haben wir den Aufständischen in Syrien damals angeboten, bevor Russland einschritt und auch danach? Und Aleppo? Unser damaliger Aussenminister Gabriel schlug mal eine Luftbrücke vor. Diese Idee verschwand schnell. Warum? Was haben wir unternommen, “der zarte Pflanze der Demokratie, unserem moralischen Exportschlager, der Freiheit dort zum Keimen zu verhelfen?”
Wir haben kommentiert, gelobt, kritisiert, geguckt. Sonst nichts. Eine reine Gaffermentalität! Und das ist beschämend für alle Gesellschaften, die sich als demokratisch bezeichnen und moralische Überlegenheit an den Tag legen – und sich anschließend darüber beschweren, daß andere Länder Fakten schaffen.
Intermezzo: Der orange Agent
Eine Anmerkung zu chemischen Kampfstoffen: Wie war das doch gleich mit Agent Orange? Sicher, es ist schon eine Weile her und es handelt sich nicht um Giftgas im eigentlichen Sinne, aber als Folge des massenhaften Einsatzes im Vietnamkrieg zwischen 1961-71 zur Entlaubung (Operation Ranch Hand) wurden 3 Mio Hektar Land inkl. landwirtschaftlicher Fläche besprüht. Bis zu 4 Mio Menschen litten (und leiden, sofern sie noch leben) in der Folge unter z.T. erheblichen Gesundheitsschäden. Auch bei exponierten Veteranen wurden vermehrt Leukämien, Hodgkin-Lymphome und andere Tumore verzeichnet. Übrigens: die Briten verwendeten dieses Entlaubungsmittel zuerst in Südostasien…
Ein bisschen hier, ein bisschen dort…
Und jetzt? Strategische Luftschläge, die am ehesten einem Ausdrücken von einzelnen Pickeln gleichkommen. Die Briten sind natürlich auch mit dabei und unser etwas schmalhalsig wirkender neuer Außenminister unterstreicht immer wieder die Unterstützung für diese Vergeltungsschläge. Fast wirkt er so, als bedauere er es, daß die Bundeswehr nicht auch “mitgespielt” hätte. Vermutlich waren wieder Triebwerke, Flügel, Scheibenwischer oder Steuerknüppel nicht einsatzbereit…
Aber noch einmal zur Rechtfertigung: Vergeltung. Wurden wir angegriffen? Wen oder was vergelten wir? Ach ja, ein Angriff auf unsere westlichen Werte -als ob andere Kulturen diese nicht hätten- die Bevölkerung, die 40, 100 oder 500 Menschen, die durch Gas getötet wurden. Ei, ei, wie unmenschlich! Da hatten es ja die 470.000 anderen Todesopfer gleich viel besser! So viele sind nämlich neueren Schätzungen zufolge bisher in Syrien gestorben. Also über was reden wir? Menschlichkeit? Image? Moral? Verantwortung der “freien, westlichen Welt”? Womöglich wird auch noch unsere Verantworung für die deutsche Geschichte herangezogen…
Fazit? Selbstkritik schadet nicht – Vorsicht auch nicht
Auch wenn wir gerechtfertigt Verbrechen anderer anklagen, so sollte man nicht nur sicher sein, dass diese auch die Täter sind, sondern wir müssen uns auch an unseren eigenen Maßstäben messen lassen. Beispielsweise mit Despoten jahrzehntelang Geschäfte machen und anschließend mit den Finger auf sie zeigen, ist ebenso wie Gaffen und Kommentieren kein Zeichen von Charakterstärke. Wohl aber das Sprechen und Handeln, das unseren eigenen Werten entspricht, jenseits von moralischer Überheblichkeit.
Für die Gesellschaft wie auch für jeden Einzelnen ist der nüchterne Umgang mit Informationen wichtig. Die Aufregung um Fehl- und Desinformation in den letzten Jahren, die Angst vor totaler Überwachung -sei sie nun real oder nicht- fordert uns alle auf, vorsichtig mit Meldungen und Bildern umzugehen…