“Das Grauen der Menschheit”

Morgens halb zehn in Deutschland“, so fing früher in der Werbung der Spot für das “Knoppers” an, in dem sich Handwerker in einer ersten Arbeitspause stärkten. Morgens halb zehn in der Arztpraxis habe ich schon einige Patienten “hinter mir”, vom Schulschwänzer bis zum Blinddarm oder was es sonst noch so gibt.

Vor mir sitzt ein älterer Herr, etwa Anfang 80. Er warte noch auf seine Frau. Die Tür geht auf und eine ebenso alte Dame tritt ein. Liebevoll blinzelt er ihr zu und sagt “Da kommt sie ja: meine Frau – das Grauen der Menschheit” und kichert in sich hinein. Sie ist aber auch nicht auf den Mund gefallen, droht ihm mit den Tabletten, die sie ihm immer zuteilt. Den ganzen Tag über würden sie sich so gegenseitig necken, sagt er. Irgendwie süß die beiden. Wenn doch nur alle Patienten so unterhaltsam wären – und so rüstig vor allem. Das Grauen der Menschheit findet sich zwar hier nicht, aber die Abgründe des menschlichen Daseins werden einem schon präsentiert. Man ist Arzt, Kummerkasten, Psychologe, Priester… ach ja, natürlich auch mal Mülleimer für die chronisch Unzufriedenen, für die alle Anderen Schuld an ihrem Dasein haben. Egal, jetzt steht erst einmal der Urlaub an. Sagenhaft ganze 5 Tage Urlaub haben wir dieses Jahr zusammen. Die restlichen Tage musste ich mir anderweitig aufteilen. Die Zeit war aufregend: erst im August den Notarztkurs in Düsseldorf, dann alleine in der Praxis arbeiten und jetzt kurzentschlossen in den Schwarzwald. Ganz spontan, 4 Tage vorher gebucht, hatten wir echt Glück gehabt, noch etwas zu bekommen.

Blick von Hornisgrinde nach Westen (1164 m) – höchster Berg des Nordschwarzwald

“Rückwärts essen” – Autoweihe

Da wir unser neues Auto nicht gleich wieder “einsauen” wollen, haben wir uns selber bestimmte Grenzen auferlegt: es wird nicht gegessen und getrunken im Auto. Naja, um das alles praktikabel zu halten gestatten wir uns zunächst Wasser im Auto zu trinken. Im Stau kann dann auch mal Hunger dazu kommen und nun ja, der Kakao ist doch im Becher ganz sicher untergebracht… So geht das ne Weile gut mit nur wenigen Klecksen. Im Nordschwarzwald abseits der geraden Autobahn wird Nico aber wegen der vielen Kurven schlecht. Schnell noch der leere Kaffeebecher zum Auffangen nach hinten gereicht und schon sprudelt es hervor – retrograde Magenentleerung. Na super, das Auto ist eigeweiht. Wie war das noch mit dem nix essen und trinken im Auto? Naja, von Erbrechen hatten wir nichts gesagt…

Blick auf den Mummelsee

Im schönen Alpirsbach, unweit von Freudenstadt haben wir uns einquartiert. Das Hotel liegt oberhalb des Ortes an einem Hang, an dem sich ein schmaler Weg hochzieht. Es ist wunderbar idyllisch und für ausländische Besucher bestimmt typisch “schwarzwälderisch”. Leider gibt es hier sehr viele Raucher, der Nachbar raucht um halb fünf morgens die erste Zigarette auf dem Balkon. Ansonsten gefällt uns der Ort. Von hier aus machen wir unsere Tagesausflüge. Wir sind hungrig nach Natur und bekommen davon reichlich.

Wasserspiele in Freudenstadt

Zunächst erklimmen wir ein paar bekannte Berge nahe der “Schwarzwald Hochstrasse“. Das Wetter ist anfangs trübe, wir laufen durch Nebel, Regen und tief hängende Wolken. Wir freuen uns trotzdem über die Natur, die Luft.

In den nächsten Tagen kommt aber mehr die Sonne raus, wir haben Glück und können einen wunderbaren Spätsommer erleben.

Blick von Burg Husen auf Hausach im Kinzigtal

Stierkampf im Schwarzwald

Der Abreisetag beginnt mit einem Schrecken: Wir haben die Taschen gepackt und ich will das Auto nach oben fahren, um das Gepäck einzuladen. Auf dem schmalen Bergweg, auf dem auch Kinder spielen, kommt mir ein Kleintransporter entgegen gerast. Ob er die Bremse findet? Da ich nicht ausweichen kann, muss einer von uns rückwärts fahren. Da er aber so dicht aufgefahren ist, dass ich kaum sein Nummernschild sehen kann, bin ich es, der vorsichtig rückwärts fährt. Er bleibt aber genauso dicht an mir dran, als ob er mich runterschieben möchte. Als er in einer Haltebucht vorbeirasen möchte, hupe ich. Er springt raus und schreit mich an, was ich für ein Problem hätte, dann reisst er die Tür auf, kommt mit seinem bulligen Gesicht ins Auto und bedroht mich auf`s Übelste. “Ich breche Dir das Genick!”. Seine Augen sind aufgerissen, der Blick wie auf Droge oder psychotisch. Ich merke, wie hauchdünn seine Nerven sind, es fehlt nur ein Nanometer und dann rastet er aus! Im Bruchteil einer Sekunde schätze ich meine Chancen ein. Das läuft wie irgendwie programmiert, unbewußt ab, jenseits einer intellektuellen Ebene: Ich im Auto, er ein Bulle auf Adrenalin, mit dem Oberkörper in meinem Auto steckend – da habe ich keine guten Optionen. Also andere Strategie: ich entschuldige mich mehrmals, die Hände beschwichtigend erhoben, ihm zustimmend. De-Eskalation nennt man so etwas ja. Und zum Glück hat das funktioniert! Er haut noch einmal mit der Faust gegen das Auto und rast los. Puh, das war knapp.

Was hätte ich anders machen sollen? Diskutieren? Ihn darauf hinweisen, dass ich ihm nicht das “Du” angeboten habe? Oder vielleicht noch auf die Maskenpflicht und das Abstandsgebot aufmerksam machen? Bei der Nähe hätte ich glatt eine Zahnreinigung seines Raubtiergebisses durchführen können, allerdings hätte ich mir dann sicherlich auch eine Politur meiner Kauleiste eingefangen. Also alles richtig gemacht, ich habe keine Schramme und bis auf den Schreck nichts abbekommen. Allerdings merke ich mir das Kennzeichen. Zwar habe ich keine Zeugen, aber wenn Nico dabei gewesen wäre, hätte er den Schock seines Lebens bekommen.

Ehemaliges Benediktinerkloster Alpirsbach

Nach unserer Abreise aus dem Hotel fahren wir zur Polizeistation dieser Kleinststadt. “Montag bis Freitag von 9-12 und nachmittags… blablabla” lesen wir an der Tür. Und heute ist Samstag. Was für ein “ulkiger” Tag, wie lustig…. Also fahren wir nach Freudenstadt. Auch hier muss ich 20 min auf die Polizeibeamten warten, aber die waren immerhin auf Streife. Eine junge Polizistin und ihr ebenso junger Kollege nehmen meine Anzeige auf. Sie sind sehr nett und wirken kompetent. Sie zeigen mir Fotos von Personen, die auf meine Beschreibung passen und im Zusammenhang mit dem Fahrzeug stehen. Einer von denen könnte es sein. Sie dürfen zwar nichts sagen, aber lassen durchleuchten, dass dieser Mann der Polizei bereits bekannt ist. Nebenbei erwähnen sie, dass es hier in der Gegend sehr viele psychisch Kranke gibt… Na das beruhigt mich ja für den nächsten Urlaub hier…

Sicherlich wird die Anzeige im Sand verlaufen, aber wichtig war mir der Hinweis, dass dort auch kleine Kinder leben und spielen, die nicht verletzt (oder gar oder getötet) werden sollen durch so einen Verrückten.

Trotz dieses Erlebnisses war es eine wunderbare Woche in einer wunderschönen Region!

Wieso heißt der Wald noch mal Schwarzwald…?

Es werden demnächst noch ein paar Bilder folgen, freut Euch drauf!

Liebesgruesse aus ¨Piter¨

 Es ist mal wieder soweit: Urlaub. Dieses Mal steht eine Reise an, die eigentlich schon längst überfällig ist: ein Besuch in Russland. Drei ganze Jahre sind wir nicht dort gewesen, Nicos Ur-Oma kennt “Nico-Mann” nur von Skype bzw. What’sApp-Telefonaten. Kränklich und fast 92 Jahre auf dem Buckel, kann jeder Tag der letzte sein. Überhaupt ein Wunder, dass sie so lange durchgehalten hat. Vielleicht treibt sie auch der Wunsch an, in ihrem Leben Nico mal im Arm zu halten, bevor sie das Zeitliche segnet.
Drei Jahre etwa ist es auch her, dass sie sich das letzte Mal aus der Wohnung getraut hat. Zu weit ist der Weg aus dem fünften Stock durch das dunkle Treppenhaus, unklar, ob sie den Rückweg schafft. Und auf der Strasse vor dem Haus: tausend Stolperfallen, nicht nur für ältere Menschen.

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Nico studiert schon mal die Sicherheitshinweise

Für Nico, unseren ¨kleinen Russen¨, ist es die erste Russland-Reise, für mich wird es das erste Mal sein, mit einer russischen Fluglinie zu fliegen.

Solche und solche – also welche?

Los geht es ab Düsseldorf. Mit unseren Pässen in der Hand stellen wir uns in die lange Schlange vor der Passkontrolle. Ungefähr 80 Leute stehen da aus allen möglichen Ländern. Zwei Beamte kontrollieren im üblichen Beamtentempo die Pässe. Neben uns zwei weitere Schalter für EU-Bürger, an denen nur wenig los ist. Wegen Olgas russischem Pass müssten wir ja getrennt durchgehen, aber Familien zu trennen macht -für den normalen Verstand- wenig Sinn, zumindest mit kleinen Kindern. Zudem hat Olga ja einen gültigen Aufenthaltstitel und würde daher auch nicht ganz mit den anderen zusammen passen.

Ich gehe zu einem der Kontrollhäuschen und frage den jungen Beamten, ob wir denn nicht als Familie und Aufenthaltstitel usw. zusammen hier durchgehen könnten. Er guckt mich grimmig an. ¨Nein, das geht nicht!¨ sagt er. In seiner Stimme schwingen Machtbewusstsein und eine gewisse Überheblichkeit mit. Wenn man einen Teil seiner Kindheit in der DDR aufgewachsen ist, weiss man, wann es Sinn macht zu diskutieren und wann nicht. Ich stelle mich wieder zu Olga und Nico in die Schlange. Wie wir so stehen, wird Nico so langsam ungeduldig und beginnt zu quängeln. Zudem sind auch noch die Windeln voll und ausgeschlafen ist er zu so früher Stunde auch nicht. Also entscheiden wir uns dazu, dass Nico (deutscher Pass) und ich zusammen durchgehen. Ich gehe dieses Mal zu dem anderen Schalter und lege die Pässe vor.

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Wenn man’s erst einmal geschafft hat…

Irgendwie kann ich es mir doch nicht verkneifen, eine gewisse Diskriminierung anzumerken. Der junge Beamte guckt hoch und fragt freundlich: ¨Wo ist denn die Mama?¨ Ich zeige in die Schlange. ¨Sie soll kommen!¨, er winkt. Nun stehen wir also unerhofft wieder zusammen an dem Häuschen, die Unterlagen werden bearbeitet und Olga bekommt noch ein paar Tipps zu ihrem Aufenthaltstitel. Ich zwinkere noch dem anderen grimmigen Beamten zu, der uns zuerst weggeschickt hatte. Und dann sind wir durch, ganz schnell. Geht doch! Alles nur Willens- und Ermessensfrage! Und: es gibt immer solche und solche.

Fliegen mit “Äroflöt

Es ist das erste Mal, dass Nico ein eigenen Sitzplatz hat im Flugzeug, eine Erleichterung für uns, weil er jetzt nicht mehr auf unserem Schoß sitzen muss. Wir fliegen mit Россия (Rossija), einem Ableger von  Аэрофлот (Aeroflot). Es war die einzige günstige Verbindung nach St.Petersburg mitten in der Zeit der Fußball-Weltmeisterschaft, die wir noch bekommen konnten. Der Flug ist recht kurz, wir lassen schnell Polen unter uns vorbeiziehen und schon erstreckt sich die Ostsee unter uns. Getränke und Knabbereien werden sparsam verteilt. Es ist eben eine low-cost oder Budget-Airline.
Kurz vor der Landung kommt Olga mit einer anderen Passagierin ins Gespräch. Sie heißt Anna, stammt aus St. Petersburg und hat gerade Ihren Verlobten in der Nähe von Osnabrück besucht – ach nee, so klein ist die Welt. Sie spricht bereits etwas Deutsch und wartet auf die Dokumente für die Hochzeit. Die Landung verläuft problemlos, ich habe meinen Jungfernflug mit einer russischen Fuglinie überlebt. Nach der Landung klatschen die meisten Passagiere. Eine eigenartig anmutende Sitte. Nur ein Relikt aus der Vergangenheit oder doch nur Glück? Ich denke, es ist Ersteres.

“Ленинград город герой” – Leningrad, Stadt der Helden”


Wir rollen über das Flugfeld, vorbei am Tower und an endlosen Flughafengebäuden. Mit lateinischen und kyrillischen Buchstaben begrüßt die Stadt die Besucher: St. Petersburg -Leningrad-Heldenstadt. Schon hier soll der Ankömmling die Bedeutung der Stadt für die russische Seele beginnen zu begreifen , doch dazu später mehr.

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Leningrad, Stadt der Helden – Begrüßung am Flughafen

Im Terminal gibt es die Möglichkeit, ein Taxi zu einem Festpreis zu bestellen. Immerhin haben wir einen großen Koffer dabei, den Buggy für Nico und die ein oder andere Tasche. Anna begleitet uns noch ein Stück Richtung Taxistand, dann trennen sich unsere Wege. Unser Taxifahrer heisst Marat und kommt aus Usbekistan. Er ist ein typischer Gastarbeiter aus Zentralasien. In den grossen Städen Russlands, vor allem aber Moskau gibt es zunehmende fremdenfeindliche Gewalt gegen Gastarbeiter aus diesen ehemaligen Sowjetrepubliken. Besonders natürlich die vielen Illegalen habe darunter zu leiden, aber auch jene, die einfach so aussehen, weil die Eltern oder Grosseltern einst aus diesen Regionen stammten. In Moskau -und vielleicht nicht nur dort- gibt es regelrechte organisierte Gruppierungen, die sich zur Aufgabe gemacht haben, Illegale oder vermeintliche Kriminelle aus auf solchen Regionen aufzuspüren und zu melden, zu bedrängen, zu bedrohen. Doch nicht nur das. Gewalt spielt zunehmend eine Rolle, Schutz können sich diese Menschen nicht erhoffen.

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Neue Autobahn


Marat versichert uns, solche Probleme nicht zu haben. ¨Piter¨, wie St. Petersburg liebevoll von seinen Bürgern genannt wird, sei anders als Moskau, freundlicher. Eben anders.
Sicher und mit ruhigem Gaspedal fährt er uns der mit 5 Millionen Einwohnern zweitgrössten Stadt Russlands entgegen. Auf einer neuen grossen Autobahn, die sicherlich für die Fussball-WM gebaut wurde, geht es vorbei an unzähligen Baustellen. In der Ferne sieht man noch grössere Bauprojekte. Bei diesem Anblick und ohne Schlaglöchern (!), hat man fast das Gefühl in einem anderen Land zu sein.
Mit Mühe finden wir in der Nähe eines Handelshafens und einem Industriegebiet unser Hotel, das “Baltiskaya”. Es scheint ein typischer 60er Jahre-Bau zu sein mit dem konservierten Charme der Sowjetzeit. Mit dem Koffer um die hier wieder reichlich gesäten Schlaglöcher herummanövrierend, die grossen Treppenstufen hinauf, sind wir bereits das erste Mal verschwitzt.
Die Dame an der Rezeption nimmt unsere Pässe entgegen und wir bekommen die Schlüssel. Der Fahrstuhl ist so klein, dass wir nicht alle zusammen (selbst ohne Buggy) hineinpassen. Drinnen empfängt uns schlechte Luft und Dimmerlicht. Aber er fährt. Im Zimmer setzt sich der Charme von unten fort, um im Bad harmonisch auszuklingen…

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Hotel “Baltiskaya”

Die Fensterscheiben haben anscheinend schon länger keinen Kontakt mehr mit Wasser gehabt, aber die Bettwäsche ist sauber. Na gut, immerhin ist es schwer in dieser Metropole ein Hotelzimmer zu einem vernünftigen Preis zu finden und jetzt zur WM hätten wir locker das Vielfache ausgeben können.
Ich drehe den Wasserhahn auf, möchte mir Hände und Gesicht waschen. Doch das Wasser riecht, nein stinkt regelrecht nach Metall! Es ist ekelig! Auf dem Gang hatte ich einen Wasserpender gesehen, der mit frischen Wasserflasche befüllt wurde. Mit 3 Flaschen à 1,5l melke ich also diesen Wasserspender. Jetzt kann ich mir die Hände waschen… Herrlich!

Immer den Chinesen hinterher!

Nach einer kurzen Ruhepause zieht es uns nach draussen, wir müssen ein paar Lebensmittel kaufen. Anschliessend wollen wir einen ersten Eindruck von der Stadt bekommen. An der Rezeption erkundigen wir uns nach dem einfachsten Weg ins Zentrum.

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Das Gebäude einer verlassenen Marine-Akademie

¨Wenn Ihr ganz viele Chinesen seht, dann seid Ihr da!¨, sagt die Dame und wir machen uns auf Richtung Bushaltestelle. Pfützen, Schlaglöcher, lose Steine säumen unseren Weg. An dem verlassenen und fast verfallenen Gebäude einer Marineakademie warten wir auf den Bus. Man merkt, St.Peterburg ist eine Metropole, deren Geschichte eng mit dem Meer verbunden ist. Gelegen an der Newa, mitten im sumpfigen Delta des Flusses, wurde sie 1703 von Peter dem Grossen gegründet. Aber schon vorher gab es Siedlungen und das Gebiet war Zankapfel zwischen dem (damals) starken Schweden und einem russischen Staat namens Nowgorod (nicht die Nischnij Nowgorord), der sich zwischenzeitlich zwischen Ostsee und dem nördlichen Ural ausdehnte.

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Seitenstrasse mit Blick auf die Admiralität

Die Siedlung auf der vorgelagerten Insel Kotlin trägt seitdem den schwedischen Namen Kronstadt . Auch andere schwedische Siedlungen hat es hier gegeben. Der grosse Peter wollte aber gerne Zugang zum Meer für sein riesiges Reich haben. Zeitgleich wollte er aber auch seine Hauptstadt hier bauen, die als ¨Fenster nach Europa¨ wirken sollte. Durch die unwirtlichen Naturverhältnisse und die brutal-ärmlichen Bedingungen zur damaligen Zeit, fanden Zehntausende Zwangsarbeiter bei der Verwirklichung Peters Vorhaben den Tod.

Der Bus kommt, wir steigen ein. Die Fahrt geht vorbei an den Fabrikanlagen, von denen einige sehr sehr alt wirken, modernen Bürogebäuden, und herrlichen Altbauten. Immer wieder trifft man auf Zeugnisse der Seefahrt, sei es die zivile oder die Kriegsmarine. Der Bus hält an einer Art Marinemuseeum, davor stehen eindrucksvoll mehrere kugelige Stahlungeheuer, die kleine Noppen oder Stacheln zu haben scheinen. Das müssen Seeminen sein. Daneben eine Art Taucherglocke, so wie sie vor Urzeiten verwendet wurde. Und dann ist da noch ein kleines Modell eines U-Boots. Leute steigen aus, andere ein und der “Konduktor“, die Fahrkartenkontrolleurin, geht rum und verkauft Fahrkarten. Die Busse sind neu, sauber, ein Monitor zeigt die Strecke und die nächste Haltestelle an.

Venedig des Nordens

Wir nähern uns dem Zentrum: grosse, stattliche, bisweilen prunkvolle Gebäude zu beiden Seiten, unzählige Kanäle mit Brücken bringen uns der ¨Admiralitayskaya¨ näher, der Admiralität und dem zentralen Punkt. “Olga, hier gibt es Chinesen! Wir sind im Zentrum!¨, sage ich. Wir steigen aus und lassen uns treiben in dem Fluss der Passanten und lassen die Eindrücke der ersten Schritte in dieser Riesenstadt wirken.
Nach mehreren Kilometern zwingen uns Müdigkeit und Erschöpfung nach einem Abendessen zur Rückkehr. Nico hängt auch schon auf halb acht im Buggy, den wir uns von der Familie meines Bruders ausgeliehen hatten. Auf russischen Strassen ist es wie ein Härtetest für dieses Leichtgerät. Mal schauen, ob dieser zu einem Crashtest mutiert…

Am nächsten Morgen sind wir etwas gerädert. “Etwas” ist noch untertrieben. Irgendwie war das gestern doch etwas anstrengend, zumal Nico nicht einschlafen und das Gezeter und ¨Geflöte¨ (Rumquaken, rumschreien etc.) gefühlt gar kein Ende nehmen wollte. Während wir unsere Knochen ¨zusammensuchen¨ ist Nico natürlich putzmunter: Nachttischlampen werden bewegt, Lichtschalter geknipst wie Stroboskoplampen in der Disko und Steckdosen untersucht. Boah, ich könnte ausrasten!

Nach einem Frühstück mit Gezappel und Gezeter und Chinesen (die bevölkern auch das Hotel)geht es langsam los.
Es hat geregnet, die Pfützen vor dem Haus sind gut gefüllt, aber die Sonne kommt raus und bringt das Wasser eines nahen Flussarms der Newa zum Glitzern. Mit dem Bus geht es wieder in die Innenstadt. Bei herrlichem Wetter geht es über recht gute Gehwege zur Admiralität.

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Admiralität mit Schiffchen auf der Turmspitze

Hübsche Parke erstrecken sich hier, Blumen blühen, die Menschen flanieren.
Das imposante Gebäude, dass nach seinem Bau zu Beginn des 18. Jahrhunderts zunächst als Werft gedient hatte, wurde später zum Hauptquartier der Russischen Marine: zunächst der des Zaren und nach einer Unterbrechung während der Sowjetzeit ist sie seit 2012 auch nun wieder das Hauptquartier der Marine der Russischen Förderation. Die vergoldete Kuppel, die an der Spitze ein kleines Schiff trägt, ist weithin sichtbar. Von diesem zentralen Punkt aus wurden die grossen Prachtstrassen -die Prospekte– ausgerichtet, von denen aus man auch in kilometerweiter Entfernung die Kuppel sehen kann.

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Spaaaaaaß!

Wir passieren joggende Soldaten, Seemänner in Marineuniform. Nico ist beeindruckt und versucht mit den kräftigen Mannen Schritt zu halten – und wir mit ihm. Er hat sichtlichen Spass daran. Wir sind kaputt. Wir entdecken einen kleinen netten Spielplatz neben der Admiralität. Nico und Olga schaukeln und ich vertiefe mich in den Reiseführer.
Beim Durchblättern -ich hatte vorher leider keine Zeit mich wirklich vorzubereiten- wird mir noch deutlicher, wie gross diese Stadt ist und wie viel sie zu bieten hat. Wahnsinn! Mir wird klar, wir werden nur einen kleinen Teil sehen können. Hier muss man wirklich viel Zeit mitbringen!

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Der Eherne Reiter: Sieg über die Schweden

Nach einem Eis geht es weiter zur Newa. Hier steht der Eherne Reiter, neben der Admiralität eines der Wahrzeichen der Stadt. Auf einem riesiger Findling, der als Sockel dient erhebt sich Peter der Grosse auf einem Pferd in den Himmel. Die Vorderhufen in die Luft hebend, steht das Pferd auf den Hinterbeinen und zertritt dabei eine Schlange. Dies soll den Sieg über die Schweden darstellen, die Schlange symbolisiert die Schweden. Die Inschrift am Sockel ¨Peter dem Ersten – Katharina der Zweiten¨ verrät, wie sehr sich die einstige Grande Dame emporheben und verewigen wollte.
Wir schlendern weiter Richtung Isaaks-Kathedrale. Am Abend zuvor konnte ich sehen, wie Menschen auf die Plattform hoch über der Stadt geklettert waren. Das will ich auch.
Das Gotteshaus gehört mit ihren 101,5 m Höhe zu den grössten sakralen Kuppelbauten der Welt.

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Die Isaaks-Kathedrale

Die Besucherplattform ist natürlich nicht so hoch, aber sicherlich trotzdem interessant. Nico und Olga wollen lieber unten bleiben. Eine Wendeltreppe führt in unzähligen Biegungen nach oben auf ein Zwischenpodest. Anschliessend geht es über ein Dach und einer weiteren Treppe noch ein paar Meter höher. Von allen Seiten hat man einen wunderbaren Ausblick, unter anderem, weil die Befestigungen nicht so streng sind. Das nutzen einige aus. Ein Mann schiebt sich an mir vorbei, klettert über das Geländer und posiert mit emporgehobenen Armen für ein Foto – zwei Schritte hinter ihm geht es steil abwärts….

 

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Ausblick von der Besucherplattform

In den Sommermonaten ist es möglich bis ca. 4 Uhr hier oben zu sein! Das wäre sicherlich fantastisch, aber für uns leider momentan nicht drin.
In die Kathedrale kommt man heute leider nicht rein, obwohl dies sicherlich sehr interessant gewesen wäre.

 

Gebeine unter den Füssen

Was mich bei St. Peterburg immer wieder erstaunt ist die “Internationalität” bereits in der Anfangszeit. Dass heutzutage eine Vernetzung und reger Austausch zwischen Menschen in unterschiedlichen Ländern besteht, daran haben wir uns gewöhnt und ist auch Teil der sog. Globalisierung. Doch umso erstaunlicher ist der überaus rege Austausch vor 200, 300 Jahren. Der Zar hat unzählige Bauwerke von französischen, deutschen und vor allem italienischen Architekten und Baumeistern bauen lassen, Wettbewerbe zwischen diesen “Experten¨ ausgeschrieben und hat scheinbar ein reges Kommen und Gehen am Hofe befeuert. Natürlich gab es das in anderen Städten Europas auch und stellt für sich ja keine Besonderheit dar. Aber in diesem Fall St. Petersburg erstaunt es mich angesichts der Grösse der Stadt, die aus dem Sumpf gestampft wurde, besonders. Es war ein ehrgeiziges Projekt an einem sehr unwirtlichen Ort, zumal noch umkämpft. Die Ambitionen eines reichen Mannes, Herr über ein riesiges Reich -z.T. Noch nicht richtig erforscht- mit einer sehr armen Bevölkerung, der ein ¨Fenster zur Welt¨ erschaffen wollte. Er wollte Russland an den Fortschritt im restlichen Europa der damaligen Zeit anschliessen, zumindest aber sich selber ¨connecten¨ – und darstellen. Daher das emsige Bestreben, Künstler und Baumeister von Rang und Namen der damaligen Zeit herbeizuzitieren. Man könnte von einer “historischen Arbeitsmigration” sprechen, zugegeben kein Massenphänomen im eigentlichen Sinne. Was die Arbeiter betraf, die den sumpfigen Untergrund trockenlegten und durch Arbeit krank wurden und ihr Leben lassen mussten, so war es schon ein ¨Massenphänomen¨. Man kann sagen, dass weite Teile der historischen Stadt auf Knochen gebaut wurden. Zehntausende liessen ihr Leben. Zumeist handelte es sich um zwangsrekrutierte Leibeigene.

Von einer Jägerin und Sammlerin

Nach dem Mittagessen in einem hübschen usbekischen Lokal geht es weiter zum Winterpalast, in dem die Eremitage untergebracht ist. Die Eremitage stellt nach dem Louvre in Paris die zweitgrösste Kunstaustellung der Welt dar.

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Die Eremitage

Zum Vergleich: die Ausstellungsfläche des Bayrischen Nationalmuseums beträgt 13.000 Quadratmeter (die grösste in Deutschland, international Platz 43), die der Eremitage 67.000 und der Louvre mit 73.000 noch ein ¨Quäntchen¨ mehr. 1764 gegründet, ist sie sogar noch knappe 30 Jahre älter als der Louvre. Ursächlich für den Reichtum dieser Ausstellung ist der Sammlertrieb Katharinas. Würde es sich nicht um wertvolle Gegenstände handeln, wäre sie wohl der erste “adlige Messie der Geschichte”… Was für andere Damen Handtaschen oder Schuhe sind, waren für sie eben (ausserdem noch) Kunstgegenstände – und Männer

 

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Der Palastplatz vor der Eremitage

Nicht etwa, das wir nicht in die Eremitage reingewollt hätten, aber stundenlang mit Nico-Mann in der Schlange zu stehen und dann noch das arme schreiende Kind durch die vollen Gänge zu schleifen, ohne, dass er irgendwo hätte dran herumpopeln oder herumklettern könnte – nein, das wäre auch uns zu viel gewesen. Also müssen wir da mal rein, wenn Nico schon grösser ist. Die Wahnsinns-Sammlung und den Gebäudekomplex von innen wollen wir auf jeden Fall mal sehen.
Das Äussere und der Platz vor dem Winterpalast ist nicht weniger imposant: 5,4 Hektar gross und damit mehr als doppelt so gross wie der Rote Platz in Moskau! Umrahmt wird die grosse Fläche von Teilen des Eremitage-Komplexes. Gegenüber, halbrund, eine ebenso beeindruckende Fassade im Stil des Empires, in der sich ein doppelter Triumphbogen befindet. In der Mitte des Platzes befindet sich die 47,5 m hohe Alexandersäule aus rotem Granit.

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Alexandersäule

Sie soll die höchste ihrer Art weltweit sein und 500 Tonnen wiegen. Auf diesem Platz ereigneten sich in der Vergangenheit historische Ereignisse wie der Petersburger Blutsonntag 1905, als Arbeiter gegen unmenschliche Arbeitsbedingungen demonstrierten, oder auch die Oktoberrevolution von 1917, als die Bolschewiki die Macht übernahmen.
Neben der Säule steht ein junger Mann mit Gitarre, eine Schar Menschen um ihn herum lauschen den Klängen und den russischen Liedern. Nico hält es nicht länger im Kinderwagen, der kurze Schlaf ist vorbei. Schon rennt er los, quietscht vergnügt, das ganze Gesichtchen sieht aus wie das einer Grinsekatze. Abwechselnd bewachen wir Kinderwagen und rennen Nico hinterher. Tanzend läuft er im Kreis. Nach etwa 45 min setzt dann die Müdigkeit ein – bei uns wohlgemerkt, Nico könnte noch länger herumtoben…

 

Petergof*

Am nächsten Tag geht es aufs Wasser: Wir wollen mit dem Boot nach Peterhof fahren. (*Im Russischen gibt es kein “H”, daher wird es mit “G” ersetzt.)  Pünktlich legt das Boot ab und saust nur so über das Wasser.

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Peterhof

Nach etwa 40 min haben wir unser Ziel erreicht. Hier, etwa 30 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, befindet sich einer der bedeutesten Schloss- und Parkanlagen, die gerne als ¨Russisches Versaille¨ bezeichnet wird. Zunächst nur als Landhaus und eine Art Rastplatz auf dem Weg zur Festung Kronstadt geplant, baute der Zar Peter der I. hier eine Residenz. Diese wurde in den folgenden Jahrzehnten noch weiter ausgebaut.

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Ausmaß der Zerstörung und Wiederaufbau

Genauso wie im restlichen St. Petersburg gestalteten auch hier internationale Baumeister und Gartenbaumeister Park und Gebäudekomplexe. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Areal von der Wehrmacht besetzt und die wertvollen Gegenstände geplündert. Die Gebäude selber nahmen im Zuge der Kämpfe schweren Schaden, doch schon direkt nach Kriegsende begannen bereits die Wiederaufbaumassnahmen.

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Die “Große Kaskade”

Heutzutage kann sich der Besucher wieder an diesem wunderschönen Ort erfreuen: Grandiose Architektur, viel Gold und herrliche Parkanlagen, in denen zahlreiche Springbrunnen den Besucher erfrischen. Diese kommen übrigens seit jeher ohne Pumpen aus (also die Springbrunnen), da Druck und Wasser aus höheren Lagen genutzt wird.

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Unbeschreiblich…

 

Nico rennnt durch die Gegend, wir geniessen ein herrliches Wetter. Nach meheren Stunden machen wir uns wieder auf den Weg zum Steg, um das Boot zurück in die Stadt zu nehmen. Anschliessend bummeln wir auf dem Weg zu einem Lokal für das Abendessen noch durch die Stadt. Heute ist das WM-Spiel Schweden gegen Schweiz. Plötzlich stehen wir inmitten jubelnder und gröhlender Fussballfans beider Mannschaften, die sich in den Armen liegen und amusiert die Strassen bevölkern. Eine interessante Athmosphäre.

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Tritonfontäne

 

Es geht den Nevskij-Prospekt rauf und runter, entlang zahlreicher Nobelboutiken und auch kleinerer Shops. Der Verkehr stockt, Luxuskarossen schieben sich langsam vorwärts. Diese Prachtstrasse, benannt nach Alexander Nevsky, strotzt vor imposanten Bauten.

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Am Nevskij-Prospekt, links das Singerhaus

Unter anderm finden sich hier eine historische Shopping Mall aus dem 18.Jh. (Gostiny Dvor), Statuten, das Singer-Haus, der von Rastrelli erbaute Stroganov Palast, ein halbes Dutzend Kirchen aus dem 17. Jh und vieles andere mehr. Es soll an die Champs-Elisee erinnernt, was es auch tut. Auch Prominente der damaligen Zeit verweilten gerne hier, so z.B. Alexander Puschkin, aber auch Dostoyevski, der einen Teil seiner Werke hier spielen liess.
Irgendwann sind wir durch. Wir sind fertig. Also geht es langsam Richtung Hotel.

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Nicht umsonst als “Venedig des Nordens” bezeichnet

 

Immer munter rauf und runter

Am nächsten Tag hat es sich das Wetter anders überlegt. Es regnet. Und wir müssen auschecken. Heute Abend soll es mit dem Zug vom Ladoshkij Woksal am anderen Ende der Stadt Richtung Osten, nach Kirov gehen. Zuvor wollen wir uns aber noch mit Julia, einer alten Freundin von Olga treffen. Sie hat inzwischen drei Kinder und wohnt mit dem Mann in der 5 Millionen-Metropole.

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Prachtvolle Gebäude soweit das Auge reicht

Wir nehmen ein Taxi bis zum Bahnof. Wir wollen zunächst am Vormittag das sperrige Gepäck dort verstauen und uns dann mit Julia treffen. Ohne Koffer geht es zur Metro. Eigentlich graut mir bereits davor, da mir die Moskauer Metro noch sehr gut in Erinnerung geblieben ist: lange Rolltreppen, die in die Tiefe führen, wahnsinnig viele Menschen, Gedränge und Gerempel bei Ein- und Ausstieg, aber auch eine unschlagbare Effektivität und Geschwindigkeit. Den Koffer haben wir abgegeben, jetzt bleibt uns noch der Kinderwagen und Rucksäcke. Wir rollen auf die erste Treppe zu, die uns in die Tiefe führt. Menschen strömen an uns vorbei.

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Härtetest für Mensch und Material

Zusammen tragen wir Nico im Kinderwagen nach unten. Er findet das alles sehr amüsant, bestaunt aus seiner ¨Sänfte¨ die Vorgänge und unsere Schufterei, zuweilen gibt er noch unverständliche Anweisungen. Aha, na super… An der nächsten Treppe gibt es zwei Eisenstangen, die eine Art Rampe für Kinderwagen darstellt. Leider ist unser etwas zu schmal, so dass die Räderchen mal etwas verbogen sind, mal auf der Kante nach unten geschoben werden. Mein Bruder hat sich den Wagen bei Rückgabe glücklicherweise nicht so genau angeschaut (ach Quatsch, war nen Spass, Digger!).
Dann geht es weiter durch endlose Gänge bis wir zu den Rolltreppen gelangen. Um es mal vorweg zu nehmen: die Rolltreppen in Deutschland sind geschwindigkeitstechnisch ¨geriatrische Rolltreppen¨. Hier laufen sie wirklich schnell, sodass man beim Betreten sehr aufpassen muss.
Aber schnell müssen sie auch sein, ansonsten würde man nie ankommen: die U-Bahnschächte liegen in unvorstellbarer Tiefe. Mehere Minuten (!) rollt die Treppe steil (also wirklich steil!) in die Tiefe. Man kann zunächst nicht das Ende sehen. Um die Menschenmassen zu bewältigen laufen gleich mehere parallel, weiter drüben auf der anderen Seite gehts nach oben. Nico sitzt auf meinem Arm und jubelt.

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Kontrollposten

Er findet das alles toll und zupft mir vor Begeisterung an den Haaren, während ich mich mit der anderen Hand festhalte.
Es geht immer weiter nach unten, fast schon unheimlich. Aufgrund der ursprünglichen sumpfigen Gegend musste die Petersburger Metro sehr tief verlegt werden: durchschnittich liegt das Streckennetz 50-75 m unter der Erdoberfläche, die Tiefe der tiefstgelegendsten Station, der Admiraliteyskaya wird je nach Quelle mal mit 86 m, mal mit 102 m unter Null angegeben. “Da musste erst mal hinkommen” – deswegen also die Rolltreppen.

 

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Nico müde in der Metro – mit Papa-Mütze

Eigentlich ein idealer Schutz vor Bomben im Krieg, jedoch wurde die Metro hier im Gegensatz zu der in Moskau erst 1955 in Betrieb genommen. Gemeinsam haben beide Tunnelbahnen jedoch die reiche Ausschmückung der Bahnhöfe und die kilometerlangen Gänge, die Rolltreppen und die scheinbare Unpassierbarkeit für Rollstuhlfahrer und Kinderwagen. Zumindest in der Hauptverkehrszeit wird es zur Qual.
Wir haben es aber schliesslich doch geschafft, Julia und eines der drei Kinder zu treffen. Wir spazieren durch den strömenden Regen. Nico und die kleine Victoria beäugen sich zunächst vorsichtig, nehmen dann aber doch etwas Kontakt auf. Wir laufen zur Haseninsel am gegenüberliegendem Newa-Ufer. Hier liegt der historische Kern der Stadt: die Peter-und-Paul-Festung, eine sternförmige Anlage aus dem 18. Jahrhundert. Zunächst militärische Anlage im Krieg gegen die Schweden, so was sie später unter anderem Gefängnis und Hinrichtungsort des Zaren, wie auch der Kommunisten.  Hier wurden auch prominente Personen gefangen gehalten, so beispielsweise Dostojewski, Maxim Gorki und Lenins Bruder Alexander.

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Auf der Peter-und-Paul-Festung

Heutzutage befinden sich hier einige Museen. Trotz Regenwetters entladen grosse Reisebusse immer wieder Menschenmengen. Wir strömen gemeinsam in den Innenhof. Hier finden sich Tafeln, die an die Schlacht von Stalingrad erinnern, auf einer das Foto des kapitulierenden Generalfeldmarschalls Paulus. Der Zusammenhang ist mir momentan nicht ganz klar. Stalingrad, das heutige Wolgograd, ist fast 1700 km weit weg. Das einzige, was diese beiden Städte verbindet sind das blutige Schicksal während des Zweiten Weltkriegs und die ehemalige Namensgebung zu Sowjetzeiten: Aus Stalingrad wurde später Wolgograd und aus Leningrad wieder St. Petersburg.

“Süsse Erde”

Eigentlich hatte ich eher eine Dokumentation über die Zeit der Belagerung, die fast 900 Tage dauerte (Sept. 1941 – Jan. 1944), erwartet. Während die deutschen Truppen zunächst die Nordwestfront der Roten Armee zurückdrängen konnte, gerieten sie aber bald ins Stocken. Nach vollständiger Umzingelung auf den Uferseiten blieb lediglich einzig der Ladogasee als Versorgungsroute für die eingeschlossene Bevölkerung. Die deutschen Angriffe verlagerten sich auf Bombaredements und Artilleriebeschuss, wobei auch gezielt Lebensmittellager beschossen wurden.

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Paulus kapituliert in Stalingrad

Die Folge war eine Hungerkatastrophe ungeheuren Ausmasses. Auf dem Schwarzmarkt wurde Erde, in die geschmolzener Zucker gelaufen war, als ¨süsse Erde¨ zu horrenden Preisen verkauft. SS-Sicherheitsdienstchef Heydrich bekräftigte in einem Schreiben an Hitler höchstpersönlich die “Auslöschung¨ der Stadt als Ziel. Die Menschen begannen alles, was organisch war, zu essen: Leder wurde ausgekocht, Klebstoffe, Schmierfett und Tapetenkleister verzehrt, Ratten und Krähen gegessen. Bald kamen Fälle von Kannibalismus hinzu (Februar 1942 waren es über 1000 Fälle). Da die Menschen zu entkräftet waren, um die Toten zu den Friedhöfen zu transportieren, lebten sie mit den Leichnamen weiter in den Häusern. Täglich schwärmten Brigaden von meist jungen Frauen aus, um nach Waisenkindern in den Wohnungen zu suchen. Trotz der Zerstörung versuchten die Bewohner das Leben weiterzuführen. Kinder besuchten so gut wie möglich die Schule, Studenten die Universität und es wurden kulturelle Veranstaltungen organisiert.

Einzige Versorgungsmöglichkeit stellte die Route über den Ladogasee dar, der im Winter für Lastwagen befahrbar war. Natürlich war der Weg gefährlich Tausende starben bei der Flucht und die Versorgung reichte selbstverständlich nicht aus. Insgesamt kamen rund 1,1 Millionen Menschen (Zivilisten!) ums Leben. Wikipedia (engl.) gibt 642.000 Tote durch die Belagerung an, 400.000 bei Evakuierungsmassnahmen. An Truppen standen auf russischer Seite 900.000 Soldaten etwa 700.000 deutschen, finnischen und spanischen Soldaten gegenüber.

Волково кладбище

Tote werden begraben, 1. Oktober 1942 – Quelle: RIA Novosti archive, image #216 / Boris Kudoyarov / CC-BY-SA 3.0, RIAN archive 216 The Volkovo cemetery, CC BY-SA 3.0

Über die Opfer der Wehrmacht und der assoziierten Truppen aus anderen Ländern gibt die englische Seite knapp 580.000 Fälle an, die deutschsprachige Seite kennt hingegen keine Angaben. Sie gibt aber Informationen über die grobe Tötungsursache: 16.470 tote Zivilisten durch Beschuss oder Bomben, aber etwa 1 Million durch Hunger!

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Weiteres Kriegsgerät, Artilleriemuseum

Nicht nur anhand der Geschichte dieser Stadt im WWII kann man den Vernichtungskrieg etwas begreifen. Wohlgemerkt hat jeder Krieg etwas Vernichtendes, baut ja geradezu auf Vernichtung auf. Wer, wen, warum und wann sind die Kriterien, die uns bei der Bewertung beeinflussen. Gott sei Dank haben wir jüngere Generationen keine eigenen Erfahrungen machen müssen!

Das Wetter ist schlecht, wir laufen etwas herum und nachdem die Kleinen auch langsam nass sind, beschliessen wir das Treffen in einem Restaurant ausklingen zu lassen.
Julia begleitet uns anschliessend noch zum Bahnhof. Hier verabschieden wir uns von ihr und der kleinen Victoria und auch von dieser herrlich interessanten Stadt, die uns wirklich in ihren Bann gezogen hat.
Die ¨Weissen Nächte¨ haben wir leider ebensowenig erlebt, wie das Heraufziehen der Brücken, die es den Schiffen ermöglicht, in die Stadt zu gelangen und wieder aus ihr heraus. Aber mit einem kleinen Nico werden eh die Nächte mehr zum Tag gemacht, als man erwarten könnte – zumindest, wenn es sich nicht um das heimische Bettchen handelt.

Go East!

Nach einer “hochwichtigen” Fahrkartenkontrolle besteigen wir den Zug nach Kirov. Über 1200 km und etwas mehr als 21 Stunden sind es bis dorthin. Wir werden also etwas Zeit verbringen an Bord des Zuges. Mal sehen, wie es mit Nico wird. Glücklicherweise müssen wir nicht über Moskau fahren, sondern die Strecke ist eine der wenigen direkten Ost-West-Verbindungen.

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St.Petersburg – Jekaterinenburg


Es geht los ab dem Ladoshky Woksal (Ladoga Bahnhof im Osten). Schier endlos sucht sich der Zug seinen Weg durch die Aussenbezirke. Hässliche Industrieanlagen, dann fahren wir ein letztes Mal über die Newa und bald geht es nur noch durch endlose Landschaft.
Die Schaffnerin kommt herein, kontrolliert noch einmal die Fahrkarten und überreicht Nico ein kleines Rucksäckchen mit Malsachen, Puzzle usw. Ganz so wie im Flugzeug. Nico freut sich und fängt gleich an alles auseinander zu nehmen. Der Zug ist sehr bequem. Alles ist sauber, ruhig, aufgeräumt. Über der Tür ein Fernseher, die Fernbedienung liegt auf dem Tisch. Dann kommt auch schon das Abendessen. Wir können zwischen zwei Gerichten wählen. Das Essen ist übrigens im Preis inbegriffen und lecker. Nico stiefelt noch durch den Waggon und dann beginnt die kräfteraubende Zeremonie das kleine Drachenbaby schlafen zu legen. Es fällt ihm schwer. Er ist zwar hundemüde, aber so viele Eindrücke, die Menschen und dann auch noch der fahrende Zug, das ist schon nicht so leicht für so einen kleinen Mann. Irgendwann hat er es aber geschafft und Olga und ich können auch endlich mal entspannen.
Ich schlafe schlecht, Olga auch. Nur Nico pennt recht gut – bei Mama.

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Waffen während der WM verboten?

Deswegen hat Olga keinen Platz und eben auch keinen Schlaf. Nach dem Frühstück geht es den Waggon rauf und runter. Zusammen wird aus dem Fenster geguckt und die russische Weite bestaunt. Wir sind zwar noch in Westrussland und damit im eher dicht besiedelten Teil des grössten Landes der Erde, aber es fühlt sich leer an. Dann und wann mal ein Dorf, ein Gehöft, wenige Städte. Dann wieder lange nichts. Zum Mittagessen geht es in den Speisewagen. Hier ist nichts los, wir sind die einzigen Gäste. Vielleicht sind wir etwas früh, vielleicht sind es aber auch die Preise. Für uns ist es gut erschwinglich und sogleich kommt der Küchenchef und Kellner herbeigeeilt und hört gar nicht mehr auf zu reden. Er hat Gesprächsbedarf, anscheindend ist es immer so leer hier. Entweder weil er so viel redet, oder er redet weil es immer so leer ist.

Aber im Ernst: Er ist sehr nett, macht Scherze und serviert uns ein köstliches Essen. Eigentlich sei er Arzt, Infektiologe, aber von dem Geld konnte er nicht leben, deshalb arbeite er hier bei der Bahn. Seit 15 Jahren schon und es gefalle ihm gut, er bekomme gut Geld.
Dann am Nachmittag kommen wir in Kirov an. Der Zug selbst wird noch weiter nach Jekaterinenburg in Sibirien fahren. Auf dem Bahnsteig wartet Olgas Mama, Maxim und Nastja. Endlich angekommen. Nico gluckst vor Freude.

(K)ein Urlaub

Dass es kein Entspannungsurlaub werden würde, war uns vorher klar, aber dass es so anstrengend würde, das hatten wir uns auch nicht gedacht. Im Garten gibt es viel zu tun. Etwa 30 min von der Wohnung weg, liegt er 1-2 km abseits der Hauptstrasse.

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Typisch Russland: alles findet Verwendung

Wir wollen Olgas Mama helfen, den Garten zu ordnen, Unkraut zu jäten usw. Der zugewachsene Garten macht es meinem unbeholfenen Stadtauge schwer, die angebauten Pflanzen vom Unkraut zu unterscheiden. Erdbeeren erkenne ich jedoch noch.
Nachdem wir angefangen haben den Wildbewuchs zu “roden”, offenbart sicht und eine richtige ökologische Katastrophe: hier liegen Plastik neben Metallteilen, dann verrostete Fässer mit unbekanntem Inhalt, Teermatten oder Bitumen und alte Plastikflaschen mit Öl oder sonst irgendetwas. Teilweise sind diese Stoffe bereits fest mit dem Boden und den Pflanzen verbacken. All diese Abfälle und Schrott stammen noch vom Vorbesitzer. Alles wurde in die Landschaft und eben auch in die Gärten gekippt. Olgas Mama konnte das mit ihren 1,50 m nicht berwerkstelligen. Warum hat sie den Garten dann nicht verkauft? Oder eben ein anderes Grundstück? Der Blick in die Nachbargärten verrät: es sieht ürberall so aus. Zudem wird gesammelt, was man gerade hat.  Wieso? Nun, für die meisten Russen ist der Garten die “letzte Verteidigungslinie”. In den 90er Jahren hat Olga gelernt, was es heisst zu hungern, tagelang mit leerem Magen ins Bett zu gehen. Das ist für mich in unserer heutigen Zeit unvorstellbar! Viele Russen konnten diese Zeit nur überleben, weil die einen Garten hatten und alles anbauten, was ging. Und der ganze Unrat? Naja, was man hat, das hat man. Eine Logik der Mangelsituation, die wir gar nicht mehr kennen. Doch mal im Ernst: bei uns wird alles, was nicht mehr glänzt gleich weggeworfen. Ist das besser?

Wenn der Urlaub so schön ist, dass man auf die Heimreise wartet…

Wir arbeiten so gut wie wir können. Immer wieder werden wir von heftigen Schauern und Gewittern unterbrochen. Dann kommt wieder die Sonne raus und heizt die Luft auf 29 Grad auf. Dazu die unbeschreibliche Luftfeuchtigkeit. Es ist Wahnsinn! Eigentlich wie in Indien, nur dass wie hier sehr viel weiter nördlich sind, etwa auf der Höhe von Stockholm!
Als wir zurück zur Wohnung kommen, wartet schon Nico auf uns. Er hat gespielt, mit Oma und Uroma getanzt. Momentan ist er manchmal gereizt und widerspenstig. Es hat eine Trotzphase begonnen. Noch schlimmer ist das Schlafengehen, eine Tortur für alle.
Das “Maloche” geht so mehere Tage lang. Wir sind fertig. Körperlich wie emotional. Wir warten auf die Heimfahrt.
Immerhin haben wir trotzdem noch etwas Spass und Freude, wirklich! Wir unternehmen viel mit Olgas Mama und dem Rest der Familie. Olgas Oma kann den Urenkel endlich mal richtig in den Arm nehmen. Die beiden verstehen sich prächtig.

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Destillen: “Männliches Hobby” steht auf dem Schild


An einem Abend fahren wir zu Igor und Maxim. Die Mama von Max hat sich gerade den Arm gebrochen und wurde operiert. Igor stellt uns stolz seine neue Destille vor: ein Topf mit Druck und Temperaturanzeige, von seinem Kumpel Sascha mit einem Auspuff zusammengeschweisst, dazu Rohre, Chemieflaschen. Hier wird Schnaps gebrannt! Seit Kurzem ist das ganz legal in Russland. Es gibt sogar eigens spezialisierte Geschäfte.

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Z.T. selbstgebaut mit Auspuff

Igor ist inzwischen bekannt in dieser 400.00 Einwohnerstadt. Die Leute kennen seinen Schnaps, er ist beliebt – noch sei keiner erblindet, scherzt Olga. Es macht ihm sichtlich Spass  und stolz zeigt er den Saft, der sicherlich alle Mikroben vernichten könnte. Er hat nur das Druckgefäß (oder was es auch immer sein soll) gekauft, der Rest ist zusammengeschustert und mit dem Auspuff gibt es eine ganz besondere Note…

Noch ein paar Tage und es geht wieder heimwärts. Diese Besuche in Olgas alter Heimat sind kein Zuckerschlecken und das kennt sicherlich jeder, der Heimatbesuche machen muss, weil er woanders lebt. Aber es ist wichtig.

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Geschafft!

Zurück geht es über Moskau. Dieses Mal haben wir ein ganzes Abteil alleine und die Fahrt ist auch nicht so lang. Dieses Mal schläft Nico bei mir. Wieder kein Schlaf. Naja. Der Zug ist wieder sehr sauber, selbst die Toiletten laden zum Verweilen ein. Mindestens einmal geht während der Fahrt die Fahrkartendame mir dem Staubsauger durch den Wagon und reinigt die Toilette. Da kann die Deutsche Bahn noch einiges lernen…

Am Vormittag kommen wir in der russischen Hauptstadt an. Hier entschliessen wir uns wegen des Verkehrs, abermals die Metro zu nehmen. Die richtige Entscheidung. Auch mit dem grossen Koffer klappt es auf den Rolltreppen gut und Nico erfreut sich wieder an der ¨wilden Fahrt¨.

Recht schnell sind wir am Flughafen und ich komme aus dem Staunen nicht mehr raus: aufgerüstet haben sie hier für die WM. Nicht nur, dass man an Automaten T-Shirts, Kaviar und Kontaktlinsen kaufen kann, sondern auch eine “Boutique” der Firma “Kalashnikow” gibt es hier…ggg

Der Rückflug wird von Aeroflot durchgeführt. Der Flug ist ruhig, das Essen üppiger als bei der billigeren Tochter-Airline. Und schon sind wir wieder in Deutschland…

Insgesamt war es natürlich kein Urlaub im eigentlichen Sinne, aber ein wichtiger Besuch bei der Familie. Allerdings waren die Tage in St. Petersburg wirklich wunderbar. Jetzt werde ich mich erst einmal auf der Arbeit vom Urlaub erholen…

 

P.S.: Demnächst folgen  noch mehr Fotos!

 

 

Midsommar in Schweden

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Midsommar in Leksand: volle Ränge, leere Bühne. Wann geht’s endlich los?

Es ist zwar schon einen Monat her, aber dennoch will ich ein paar Eindrücke vom schwedischen Sommer und von unserem ersten Mittsommer hier in Schweden mit Euch teilen.

Nachdem wir den ersten Winter mit den kalten dunklen Nächten (und teilweise auch Tagen) endlich hinter uns gebracht hatten, kam im Mai der Frühling mit grossen Schritten. Die Tage wurden länger und länger und die Sonne schien uns ganz anders als in Mitteleuropa auf uns runterzubrezeln. Zwar war es draussen noch recht frisch, aber in der Sonne heizte sich die Wohnung schnell auf 25 Grad und mehr auf. – Die Sonne brennt hier richtig, eher so wie in Bahrain.

Nachts wurde es gar nicht mehr richtig dunkel. Olga erinnerte das an die “weissen Nächte” in St. Petersburg. Tatsächlich konnte man um Mitternacht bei wolkenlosem Himmel draussen Zeitung lesen.

Das Mittsommerfest (schwedisch midsommar) -zwischen dem 20., 21. oder 22 Juni-  beinhaltet festliche Umzüge, Konzerte und allerlei andere Aktivitäten bis tief in die Nacht hinein, mit denen die Sommersonnenwende begangen wird. Anlass ist der Umkehrpunkt der Sonne. Jenseits der Sonnenwende werden die Tage wirder kürzer bis sie zur Wintersonnenwende zum 20./21. Dezember am kürzesten sind. Ursprünglich vorchristlich, später als Hochfest des Johannes des Täufers gefeiert, ist es heute auch durch die Möglichkeit des kollektiven Besäufnis bekannt und beliebt. Vielleicht haben besonders “pfiffige” Schweden die Verehrung “Johannes des Säufers” daraus gemacht? Eine Rechtfertigung für ausufernden C2H6O-Konsum findet sich schliesslich immer, auch bei den sonst so unterkühlten Schweden.

 

Der lange Weg zum Alk

Die Schweden freuen sich schon Monate vorher und planen das Wochenende um Midsommar ähnlich wie Weihnachten. Mit Festen, so etwas wie Maibaum aufstellen, drumherumhampeln und anschliessend im Kreise der Familie den Abend ausklingen lassen – oder halt mit dem Fläschchen.

Apropo Fläschchen: Wenn es um Alkohol geht, sind die Schweden immer noch etwas eigen. Bier heisst hier “Öl” und “Olja” ist das schwedische Wort für Öl. Das kann schon einmal der erste Stolperstein auf dem Weg zum kühlen Blonden sein. Es gibt unterschiedliche Sorten, auch wenn die Auswahl sicherlich nicht so gross ist wie in Deutschland. Vor allem ist die Unterscheidung zwischen “lättöl” (“leichtes” Bier mit max. 2,25 Vol%) und “starköl” (mehr als 3,5 Vol%) wichtig für den durstigen Schluckspecht.

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Systembolaget – Staatliches Alkoholgeschäft

 

Während es Lättöl meistens problemlos im Supermarkt gibt, müssen sich Kunden für “stärkere Öle” und Wein, Schnäpse usw. an das “Systembolaget” wenden. Das ist ein staatliches Unternehmen, das in Alkoholangelegenheiten das Monopol in Schweden hat. Nur hier kann man Getränke mit mehr als 3,5 Vol% erstehen. Es herrschen trotz neuerer Lockerungen (Selbstbedienung im Systembolaget wurde seit 1991 schrittweise eingeführt!) noch immer strenge Gesetze. So ist der Verkauf von Sixpäcks verboten, Rabattangebote gibt es nicht und entsprechend des “Gleichberechtigungsfimmels” (dazu später einmal) ist es z.B. verboten nur Teile des Sortiments gekühlt zu verkaufen, weil die wärmeren ja dann vielleicht weniger gekauft würden usw.

Ursprünglich zur Kontrolle des Alkoholkonsums der Bevölkerung gedacht, ist angesichts der in Skandinavien vorhandenen “Alkoholister” (Alkoholiker) nur noch ein kommerzieller Staatsbetrieb übrig geblieben, der jedoch den Alkoholkonsum nicht wirkugsvoll eingrenzen konnte.Trotz seines Monopols kann er nur einen Marktanteil von etwa 30% für sich beanspruchen. Angesichts der horrenden Preise ist “hembränt” (also selbstgebrannter Schnaps) mit Schwarzmarkt und Importware sehr populär. Seit 2007 hat das staatliche Unternehmen keine vorherrschende Position gegenüber selbstimportierter Ware mehr. Bis dahin mussten auch Alkoholbestellunge aus dem Ausland über das Systembolaget gordert werden.

 

“Das is ja wie im Osten hier!”

Wir entschieden uns dazu nach Leksand zu fahren, etwa 50 km von Falun entfernt. Der etwa 6000 Einwohner zählende Ort liegt an einer Bucht, die sich zum Siljansee öffnet, der in den Fluss Österdälälven abfliesst. Von hier aus kann man sicherlich herrliche Rentnerfahrten über den gesamten Siljansee unternehmen, u.a. nach Rättvik und Mora.

 

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Leksand, Österälvdalen mit Blick Richtung Siljan

Mein Kollege Bert und seine Fraui Ingrid hatten uns vorgeschlagen, dass wir uns mit Ihnen und zwei von Ingrids Spachkurskollegen (Ingrid hatte den Kurs nach uns belegt) dort treffen. Auf einer Wiese sollte es gegen 19.30 mit Musik, Tanz und Präsentation losgehen. Im herrlichen Sonnenschein trafen wir uns auf der Festwiese, die zentral eine Vertiefung hatte. Es war so wie ein natürliches Amphitheater:  Auf den Hängen der Wiese die Zuschauen, unten in der Senke eine kleine Bühne. Oben auf den Wägen rundherum ein paar Buden mit Nahrung. Da ich auch gleich bei Ankuft Hunger verspürte, entschied ich mich, für eine “Wurst im Brötchen”. Was ich allerdings bekam war eher ein “Würstchen im Töstchen”. Wieder einmal typisch für Schweden. Die Wurst so gross wie mein kleiner Finger (und meine Hände sind wirklich nicht gross!), rundherum etwas Pappe. “Is ja wie im Osten” dachte ich mir. Eine Auswahl gab es sowieso nicht. Die anderen Stände hatten nur Zuckerwatte und sonstigen Müll. “3,50 Euro dann bitte!” Dieses fleischfarbene Konglomerat schmeckte dann erwartungsgemäß nach Nichts, aber der Magen hatte etwas zu tun. Typisch Schwedisch: keine Auswahl, teuer. Das ist etwas, was wir inzwischen lernen mussten. Aber ein Wurststand für erwartete 40.000 Leute???

Egal, wir setzten uns zu Ingrid und Bert und zu den anderen drei. Allesamt Ärzte aus Berlin, ein Ehepaar, eine einzelne Ärztin. Jung, dynamisch, schwanger. Zumindest die eine. Nun hätte man ja meinen können, dass man sich etwas zu erzählen hatte wenn man aus der gleichen Stadt kommt usw., aber nach ein paar Sätzen verebbte das Gespräch und ich war wieder in Gesellschaft solch (anscheinend) typisch deutscher Ärzte. (Das es solche auch in schwedischer Ausführung gibt, dazu irgendwann mal später).

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Nico unterm Sonnenschirm

Die Zeit verging, unser Osterhase vergnügte sich in der Sonne bzw. eher unterm Regenschirm. Wann geht’s hier endlich los??? Der Zeit verging, die Massen strömten hinzu, aber nichts passierte! Zwischendurch mal ein Ständchen, aber das war’s. Langsam wurde der Hase unruhig und als dann plötzlich die Kapelle und eine bunte Masse mit traditionellem Fummel Einzug hielt, schrie er wie am Spieß!!! Kritik oder Beteiligung an den Feierlichkeiten? Der Hunger war es dann eher. Wir kämpften uns  gegen den Strom der trällernden Menge mit einem schreienden Baby. Ganz toll! Wir kamen uns wie Rabeneltern vor.  Am Auto war er dann wieder eingeschlafen. Na super!

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Auch diese Bikes aus Bayern hatten es bis nach Leksand geschafft. Respekt!

Allerdings war ich nicht sooo traurig gewesen, dass wir gehen mussten. Ingrid berichtete mir dann nach dem Wochenende, dass es nicht so berauschend gewesen sein soll und sie nächstes Jahr nicht unbedingt noch einmal hin muss.

Soviel zu unserem ersten schwedischen Midsommar…