“Das Grauen der Menschheit”

Morgens halb zehn in Deutschland“, so fing früher in der Werbung der Spot für das “Knoppers” an, in dem sich Handwerker in einer ersten Arbeitspause stärkten. Morgens halb zehn in der Arztpraxis habe ich schon einige Patienten “hinter mir”, vom Schulschwänzer bis zum Blinddarm oder was es sonst noch so gibt.

Vor mir sitzt ein älterer Herr, etwa Anfang 80. Er warte noch auf seine Frau. Die Tür geht auf und eine ebenso alte Dame tritt ein. Liebevoll blinzelt er ihr zu und sagt “Da kommt sie ja: meine Frau – das Grauen der Menschheit” und kichert in sich hinein. Sie ist aber auch nicht auf den Mund gefallen, droht ihm mit den Tabletten, die sie ihm immer zuteilt. Den ganzen Tag über würden sie sich so gegenseitig necken, sagt er. Irgendwie süß die beiden. Wenn doch nur alle Patienten so unterhaltsam wären – und so rüstig vor allem. Das Grauen der Menschheit findet sich zwar hier nicht, aber die Abgründe des menschlichen Daseins werden einem schon präsentiert. Man ist Arzt, Kummerkasten, Psychologe, Priester… ach ja, natürlich auch mal Mülleimer für die chronisch Unzufriedenen, für die alle Anderen Schuld an ihrem Dasein haben. Egal, jetzt steht erst einmal der Urlaub an. Sagenhaft ganze 5 Tage Urlaub haben wir dieses Jahr zusammen. Die restlichen Tage musste ich mir anderweitig aufteilen. Die Zeit war aufregend: erst im August den Notarztkurs in Düsseldorf, dann alleine in der Praxis arbeiten und jetzt kurzentschlossen in den Schwarzwald. Ganz spontan, 4 Tage vorher gebucht, hatten wir echt Glück gehabt, noch etwas zu bekommen.

Blick von Hornisgrinde nach Westen (1164 m) – höchster Berg des Nordschwarzwald

“Rückwärts essen” – Autoweihe

Da wir unser neues Auto nicht gleich wieder “einsauen” wollen, haben wir uns selber bestimmte Grenzen auferlegt: es wird nicht gegessen und getrunken im Auto. Naja, um das alles praktikabel zu halten gestatten wir uns zunächst Wasser im Auto zu trinken. Im Stau kann dann auch mal Hunger dazu kommen und nun ja, der Kakao ist doch im Becher ganz sicher untergebracht… So geht das ne Weile gut mit nur wenigen Klecksen. Im Nordschwarzwald abseits der geraden Autobahn wird Nico aber wegen der vielen Kurven schlecht. Schnell noch der leere Kaffeebecher zum Auffangen nach hinten gereicht und schon sprudelt es hervor – retrograde Magenentleerung. Na super, das Auto ist eigeweiht. Wie war das noch mit dem nix essen und trinken im Auto? Naja, von Erbrechen hatten wir nichts gesagt…

Blick auf den Mummelsee

Im schönen Alpirsbach, unweit von Freudenstadt haben wir uns einquartiert. Das Hotel liegt oberhalb des Ortes an einem Hang, an dem sich ein schmaler Weg hochzieht. Es ist wunderbar idyllisch und für ausländische Besucher bestimmt typisch “schwarzwälderisch”. Leider gibt es hier sehr viele Raucher, der Nachbar raucht um halb fünf morgens die erste Zigarette auf dem Balkon. Ansonsten gefällt uns der Ort. Von hier aus machen wir unsere Tagesausflüge. Wir sind hungrig nach Natur und bekommen davon reichlich.

Wasserspiele in Freudenstadt

Zunächst erklimmen wir ein paar bekannte Berge nahe der “Schwarzwald Hochstrasse“. Das Wetter ist anfangs trübe, wir laufen durch Nebel, Regen und tief hängende Wolken. Wir freuen uns trotzdem über die Natur, die Luft.

In den nächsten Tagen kommt aber mehr die Sonne raus, wir haben Glück und können einen wunderbaren Spätsommer erleben.

Blick von Burg Husen auf Hausach im Kinzigtal

Stierkampf im Schwarzwald

Der Abreisetag beginnt mit einem Schrecken: Wir haben die Taschen gepackt und ich will das Auto nach oben fahren, um das Gepäck einzuladen. Auf dem schmalen Bergweg, auf dem auch Kinder spielen, kommt mir ein Kleintransporter entgegen gerast. Ob er die Bremse findet? Da ich nicht ausweichen kann, muss einer von uns rückwärts fahren. Da er aber so dicht aufgefahren ist, dass ich kaum sein Nummernschild sehen kann, bin ich es, der vorsichtig rückwärts fährt. Er bleibt aber genauso dicht an mir dran, als ob er mich runterschieben möchte. Als er in einer Haltebucht vorbeirasen möchte, hupe ich. Er springt raus und schreit mich an, was ich für ein Problem hätte, dann reisst er die Tür auf, kommt mit seinem bulligen Gesicht ins Auto und bedroht mich auf`s Übelste. “Ich breche Dir das Genick!”. Seine Augen sind aufgerissen, der Blick wie auf Droge oder psychotisch. Ich merke, wie hauchdünn seine Nerven sind, es fehlt nur ein Nanometer und dann rastet er aus! Im Bruchteil einer Sekunde schätze ich meine Chancen ein. Das läuft wie irgendwie programmiert, unbewußt ab, jenseits einer intellektuellen Ebene: Ich im Auto, er ein Bulle auf Adrenalin, mit dem Oberkörper in meinem Auto steckend – da habe ich keine guten Optionen. Also andere Strategie: ich entschuldige mich mehrmals, die Hände beschwichtigend erhoben, ihm zustimmend. De-Eskalation nennt man so etwas ja. Und zum Glück hat das funktioniert! Er haut noch einmal mit der Faust gegen das Auto und rast los. Puh, das war knapp.

Was hätte ich anders machen sollen? Diskutieren? Ihn darauf hinweisen, dass ich ihm nicht das “Du” angeboten habe? Oder vielleicht noch auf die Maskenpflicht und das Abstandsgebot aufmerksam machen? Bei der Nähe hätte ich glatt eine Zahnreinigung seines Raubtiergebisses durchführen können, allerdings hätte ich mir dann sicherlich auch eine Politur meiner Kauleiste eingefangen. Also alles richtig gemacht, ich habe keine Schramme und bis auf den Schreck nichts abbekommen. Allerdings merke ich mir das Kennzeichen. Zwar habe ich keine Zeugen, aber wenn Nico dabei gewesen wäre, hätte er den Schock seines Lebens bekommen.

Ehemaliges Benediktinerkloster Alpirsbach

Nach unserer Abreise aus dem Hotel fahren wir zur Polizeistation dieser Kleinststadt. “Montag bis Freitag von 9-12 und nachmittags… blablabla” lesen wir an der Tür. Und heute ist Samstag. Was für ein “ulkiger” Tag, wie lustig…. Also fahren wir nach Freudenstadt. Auch hier muss ich 20 min auf die Polizeibeamten warten, aber die waren immerhin auf Streife. Eine junge Polizistin und ihr ebenso junger Kollege nehmen meine Anzeige auf. Sie sind sehr nett und wirken kompetent. Sie zeigen mir Fotos von Personen, die auf meine Beschreibung passen und im Zusammenhang mit dem Fahrzeug stehen. Einer von denen könnte es sein. Sie dürfen zwar nichts sagen, aber lassen durchleuchten, dass dieser Mann der Polizei bereits bekannt ist. Nebenbei erwähnen sie, dass es hier in der Gegend sehr viele psychisch Kranke gibt… Na das beruhigt mich ja für den nächsten Urlaub hier…

Sicherlich wird die Anzeige im Sand verlaufen, aber wichtig war mir der Hinweis, dass dort auch kleine Kinder leben und spielen, die nicht verletzt (oder gar oder getötet) werden sollen durch so einen Verrückten.

Trotz dieses Erlebnisses war es eine wunderbare Woche in einer wunderschönen Region!

Wieso heißt der Wald noch mal Schwarzwald…?

Es werden demnächst noch ein paar Bilder folgen, freut Euch drauf!

Nur weg hier – Auszeit vom Virus

Urlaub mit Vorsicht, aber nicht weniger schön und aufregend. Gerade jetzt, wo Urlaub Sinnbild für die Illusion des Unbeschwerten ist..

Ihr kennt das bestimmt: der Urlaub ist gerade mal ein paar Tage her und man fühlt sich schon wieder so wie vor dem Urlaub: ausgelutscht, die Tränensäcke schlagen bei jedem Schritt gegen die Knie, das Bett ist wie ein riesiger Magnet…

Nun gut, immerhin habe ich gut 2 Monate durchgehalten, aber der Winter graust mir. Die Menschen sind gereizter, fordernder, egoistischer. Jetzt in der immer noch andauernden und sich sicherlich wieder verschärfenden Krise, zeigen sich die Gräben stärker, die durch die Gesellschaft führen. Aber eigentlich haben wir (bisher) sooo viel Glück gehabt in Deutschland mit Corona. Vielleicht meckern die Leute einfach zu viel, sodaß der Virus (oder das Virus) einfach keine Lust hat hier zu bleiben… Das wäre das erste Mal in der Geschichte , dass Meckern helfen würde. – Sicherlich eine Illusion, der sich Viele hingeben…

Das Frühjahr hat uns geschlaucht, die Arbeit mit den Masken (insbesondere FFP2-Masken) ermüdet die Menschen. Es gibt sogar eine Studie dazu, die in Leipzig durchgeführt wurde (Der Allgemeinarzt, 25.10.2020) Wenigstens hatten wir eine Sommerpause zum Auftanken.

Eigentlich hatten wir wieder in die Wüste gewollt, dann wegen familiärer Gründe nach Russland gemusst, aber Corona und die Einschränkungen haben alle Pläne durchkreuzt. Also entschieden wir uns in Europa zu bleiben. Frankreich sollte es dieses Mal sein: Sommer, Sonne, Strand. Bloss nicht zu kalt, da wir wegen Corona lieber campen wollten.

Ab in die Sonne

Es ist Freitag, 31.07.2020. Etwa 1400 km liegen vor uns. Da wir nicht wissen, ob es vielleicht doch noch Verzögerungen an den Grenzen gibt, fahren wir bereits am Freitag nachmittag nach der Arbeit los. Über die verrückte deutsche Autobahn gehts nach Karlsruhe, wo wir in einem kleinen Hotel übernachten. Personal gibt es keines mehr, als wir gegen 22 Uhr dort ankommen. Im Eingangsbereich ein kleiner Safe, der nach Eingabe einer Nummer ein Schlüsseltableau freigibt. Wir nehmen unseren Schlüssel und lassen uns ins Bett fallen. Nico ist da schon längst im Reich der Träume.

Verschachtelte Autobahnen – typisch in der dicht besiedelten Schweiz

Nach einem kleinen Frühstück geht es weiter nach Süden, an Freiburg vorbei Richtung Schweiz. Die Autos rasen, die Sonne lacht. Nur kurz werden wir an der Schweizer Grenze aufgehalten, dann durchgewunken. Weiter geht es an Bern vorbei nach Genf. Das Passieren der Grenze nach Frankreich merken wir kaum und schon befinden wir uns in den Französischen Alpen. Nach einer ruhigen Fahrt kommen wir in Grenoble an. Die erste französische Großstadt auf unserer Reise. Man merkt, dass man in Frankreich ist: viele Motorroller, verwirrende Strassenzüge, gelockerte Stimmung trotz Corona. Sonne, ein warmer Wind – und noch geschlossenen Restaurants.

Zwischen Genf und Grenoble

Die machen erst später auf, am Abend, um mit saftigen Preisen die Gäste zu empfangen. Mit etwa 160.000 Einwohnern ist die Stadt etwa so groß wie Osnabrück. Durch das Zentrum fließt die Isère, in der näheren Umgebung Ausläufer der französischen Alpen, deren Gipfel hier bis 3000 m in die Höhe ragen. Grenoble hat viele schöne Orte und hat sich auch als Universitätsstadt einen Namen gemacht. Es ist die drittgrößte des Landes und ein bekannter deutscher Student verbrachte hier eine Zeit seines Lebens: Richard von Weizsäcker.

Blick uf die Isère nach Osten

Das kleine Hotel befindet sich eingequetscht zwischen anderen gesichtslosen Häusern in einer kleinen Nebenstrasse im sonst ganz hübschen Stadtzentrum, Das Zimmer ist dunkel und klein. Es riecht nach Desinfektionsmittel. Ein kleiner Möchtegern-Balkon ist mit schweren Türen verschlossen, die sich nur mit etwas Mühe öffnen lassen. Man kann nur einen Fuß auf den Balkon setzen. Unten die Gasse mit den Autos. Gegenüber eine Häuserzeile mit größeren Balkons. Ein Mann mit nacktem Oberkörper raucht genüßlich eine Zigarette, während er in einer Zeitung liest. So stellt man sich “Frongreisch” vor. Auf dem Balkon daneben eine Miezekatze, die die letzten warmen Sonnenstrahlen genießt. Der Blick nach links zeigt den Mont Jalla mit dem Fort, nach rechts verläuft sich die Gasse in den Winkeln des Viertels. Ein Spaziergang zeigt eine Mischung aus schönen alten Häusern und glanzlosen Neubauten. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt stark bombardiert, da sie von der Wehrmacht besetzt war.

Hübsche Strassenzüge in Grenoble

Leider haben wir viel zu wenig Zeit und die Kräfte sind erschöpft, sodass wir schnell schlafen gehen. Am nächsten Morgen verzichten wir auf das Frühstück: im winzig kleinen Frühstücksraum sitzen die anderen Gäste dicht gedrängt nebeneinander. Immerhin können wir uns etwas mitnehmen.

Auf Napoléons Spuren

Wir fahren einen Abschnitt der Route Napoleon nach Süden. Die offiziell Route Nationale 85 (RN 85) genannte Strasse entspricht der Strecke, die Napoleon 1815 abschritt. Von Cannes kommend, passierte er Grenoble, um in Paris wieder die Mach an sich zu reißen. Während er seine Männer innerhalb von 7 Tagen die fast 400 km nach Norden hetzte, tuckern wir gemütlich nach Süden. Und das auf einer entspannten Autobahn. Bereits in der Schweiz haben wir etwas weniger LKW gesehen, hier in Frankreich sehen wir auf 400 km nur ganze 2 Stück!!! Wunderbar!! Es geht doch auch ohne!!!

Im Zentrum von Gap

Dafür müssen z.T. saftige Preise an den Mautstellen bezahlt werden. Wir sind zunächst etwas verwirrt, da man mal mit Karte, mal mit Münzen bezahlen kann oder muss. Wie eine große Hand mit 5-7 Spuren fächert sich die Strasse auf. Auf jeder Spur eine Schranke mit Automat. Dahinter geben erst einmal alle Gas, aber insgesamt fahren auch hier nur die Deutschen zu schnell… Die Besiedelung ist dünn, Großstädte fehlen hier im Südosten. Erst im Großraum Aix-en-Provence und Marseille wird es wieder voller. Sehr voll, besonders Marseille. Hier herrscht dichter Verkehr, die Motorroller und Motorräder schlängeln sich in typisch gefährlicher Manier zwischen den Autos durch, z.T. mit halsbrecherischer Geschwindigkeit. Wenn jetzt einer dieser Mopedfahrer einen Millimeter zu nah an uns wäre, würde es Klatsch machen, ohne dass ich eine Chance hätte zu bremsen. Es geht aber alles gut.

Six-Four-les-Plages

So heißt das Städtchen, in dem unser Campingplatz liegt. Etwa 33.000 Einwohner hat die Gemeinde die direkt m Meer liegt und sich mit der etwas größeren Stadt La-Seyne-sur-Mer eine Landzunge bzw. Halbinsel teilt.

Wir fahren im dichten Verkehr durch die Strassen der Stadt. Ein ständig knarrend-surrendes Geräusch irritiert mich. Ich öffne das Fenster und höre es lauter. Ist das etwa unser Auto? Der Keilriemen? Der wurde doch erst gewechselt. im Spiegel sehe ich einen alten Mercedes Kastenwagen. Der wird es sicher sein. Der Wagen biegt ab, das Geräusch bleibt. Es muss unser Auto sein. Noch auf dem Weg zum Campingplatz grübel ich über das Geräusch nach. Was kann das sein….?

Erst als wir angekommen sind und der Motor aus ist lüftet sich das Geheimnis: zirpende Grillen! Davon gibt es hier so viele, dass ihr Konzert unüberhörbar ist! Ich kann sie zwar nur schwer entdecken, aber ich bin erleichtert, dass nicht das Auto kaputt ist.

Garten statt “Rammelplatz”

Unser Campingplatz heißt “Au jardin de la Ferme”. Er wird von einem etwas älteren Ehepaar auf dem Gelände einer alten Farm betrieben. Obstbäume, kleine Chalets und ein wunderbargemütlicher Abschnitt für Zeilte und Wohnwagen unter Pinien- und anderen Bäumen prägen das Gelände. Alles wirkt sehr familiär und ruhig, nicht wie diese typische großen “Rammelplätze“, wo Wagen an Wagen steht. Wir bauen unser Zelt auf und Nico kippelt vergnügt in seinem kleinen Campingstuhl. Trotz der Müdigkeit machen wir uns auf zum Meer: nur 400 m liegen zwischen uns dem ersehnten Naß.

Au jardin de la Ferme

Die nächsten Tage erkunden wir die Umgebung. Marseille interessiert uns, aber die Stadt ist voll. Ein paar Tage später werden Teile der Stadt als Risikogebiet bereits wieder ausgewiesen. Das stört uns aber kaum, da wir jetzt mehr Natur erleben wollen. Der Strand ist gut besucht, aber wir weichen auf einen Abschnitt mit Kies aus. Hier wollen nicht so viele hin. Der Sonnenschirm wird in den Boden gerammt, Nico mit UV-dichtem Badesachen ausgerüstet und ab gehts ins Meer – oder auch nicht. Das Meer ist kalt….Trotzdem wird geplantscht, Kies aufgeschüttet, mit Wasser gespritzt. Nico ist in seinem Element.

Wer gedacht hätte, wir hätten einen typischen Strandurlaub gemacht, der hat sich geirrt. Gleich am 3 Tag machen wir eine Wanderung. Frankreich verfügt über ausgezeichnete topografische Karten bzw. Wanderkarten. Zusätzlich findet sich im Internet das Kartenmaterial frei zugänglich, interaktiv mit Wanderrouten (www.geoportail.gouv.fr). Für jeden Frankreich-Urlaub unentbehrlch!

Im Bereich Ollioules/Evenos möchten wir wandern gehen. Dazu müssen wir ca. 10-15 km nach Norden fahren. Eigentlich ein Katzensprung. Da das Land hier aber endlos zersiedelt und alle 200 m ein Kreisverkehr ist, brauchen wir fast 1 Stunde! Auch das ist Frankreich. Wir stellen das Auto im Schatten eines Baumes ab. In den kommenden Stunden machen wir einen “Spaziergang” über fast 10 km. Nico läuft davon immerhin 7 alleine! Den Rest tragen wir ihn abwechselnd. Trotz der Hitze und Anstrengung ein unvergesslicher Tag!

Das Fort Gros Cerveau Ollioules

Die Calanques – Fjorde des Mittelmeeres

Früh sind wir aufgebrochen an diesem Tag. Wir fahre Richtung Westen nach Marseille und anschliessend nach Süden zur Küste zum Massif des Calanques. Das felsige wilde Gebirgsmassiv beginnt direkt am Stadtrand von Marseille.

Des Calanques

Die enge Strassse endet an einem Parkplatz, auf dem noch nicht viel los ist. Wir stiefeln los, ausgestattet mit Wasser und Essen. Das Frühstück wird auf halben Wege eingenommen, irgendwann wird der Weg dann aber zu steil. Während wir aufpassen müssen, nicht zu fallen, hampelt Nico lustig vor sich hin. Er will nicht aufhören und schließlich ist es uns zu bunt: wir müssen unsere Streckenplanung anpassen. Das macht aber nichts, angesichts der schönen Aussicht, die wir auf einem Berggipfel genießen können: auf der einen Seite die Stadt Marseille, auf der anderen die steil ins Meer abfallenden Felsen, die wie lange Finger hinauf ins Meer reichen. Wenn es nicht so sonnig und warm wäre, könnte man meinen in Norwegen zu stehen. Ursprünglich handelt es sich um Täler, die vor ein paar Millionen entstanden und dann durch den ansteigenden Meerespiegel geflutet wurden.

Wir wandern weiter, der Weg ist schmal und steil. Wir passieren eine Gruppe junger Leute, die bei Bier und Zigaretten entspannen. Dabei besteht in dieser Region die höchste Waldbrandstufe. 40 km weiter westlich von Marseille stehen riesige Flächen in Brand. Hier gibt es immer wieder riesige verheerende Waldbrände, die oft von massiven Regenfällen gefolgt werden. Angefacht werden die Brände vom Mistral, einem sehr trockenen Wind, der das Rhonetal heruntersaust Richtung Mittelmeer. Woher wir das wissen? Nun ja, einen Brand haben wir zum Glück nicht gesehen, aber sämtliche Folgen einer Serie über die Feuerwehr hier in Südfrankreich mussten wir uns reinziehen – auf Wunsch eines einzelnen Herrn (und der bin nicht ich…). Die Serie lief in der Mediathek des ZDF.

Noch eine Biegung und wie können in der Ferne einen türkisen Fleck ausmachen: Die Buchten der Calanques. Boote dümpeln hier, ein paar Yachten und Leute schwimmen im Wasser. Wunderschön!

Les Calanques

Am Abend fahren wir in der untergehenden Sonne am Meer entlang von Cassis nach La Ciotat. Es ist eine atemberaubende und wunderschöne Strecke. Die Strasse windet sich teilweise auf den Bergrücken, manchmal direkt auf dem Grat entlang, zur einen Seite ist der relativ sanfte Hang mit Bäume gesäumt, zur anderen Seite treffen die Felsen fast senkrecht auf das Wasser. Wohlbemerkt geht es gaaaanz weit runter.

Zwischen Cassis und La Ciotat

Antoines Verschwinden

Der Blick schweift wieder in die Ferne. Dort hinten, über dem offenen Meer irgendwo, verschwand Antoine de Saint-Exupery, der Autor des weltbekannten Textes “Der kleine Prinz” am 31. Juli 1944 mit seinem Aufklärungsflugzeug. Von Korsika kommend war er auf dem Weg nach Grenoble, wo er jedoch nie ankam. Ob seine Maschine abgeschossen wurde, ein technischer Defekt die Ursache war, oder gar ein Suizid des depressiven Autors, ist nicht endgültig geklärt. Lange war unklar, wo das Flugzeug abgeblieben war, bis ein Fischer 1998 das Armband Saint-Exuperys im Netz hatte. Zwei Jahre später schließlich wurden die ersten Teile der Lockheed F-5 gefunden, und 2003 schließlich geborgen.

Grand Canyon in Frankreich?

150 km liegen zwischen unserer “Plansch-Residenz” und einer der tiefsten Schluchten: Die Schlucht von Verdon. Nicht zu verwechseln mit der Schlacht von Verdun! Je nachdem, welche Quelle man heranzieht, gehört dieser Canyon mit ewa 700 m Tiefe zu den Top 5 oder sogar Top 3 der tiefsten Schluchte in Europa. Die Tiefe der Tara-Schlucht in Montenegro wird gar mit 1300 Metern angegeben! Der Verdon-Fluß ist hier 21 km lang und mündet in einen großen Stausee, dem Lac de Sante Croix. Dieses Naturgebiet lockt vor allem im Sommer Unmengen von Besuchern an. Kein Wunder, immerhin kann man in dieser atemberaubenden Landschaft viel unternehmen: Wandern, Klettern an steilen Felswänden, sich mit Flugdrachen hinabstürzen oder sich in den eiskalten Fluten halbrecherisch flußabwärts treiben lassen.

Schlucht von Verdon

An einer wunderbaren Stelle folgen wir den Menschenmassen und steigen hinab zum Ufer des Flusses. Das Wasser ist kalt, mehere Gruppen von abenteuerlustigen, zumeist jungen Leuten, werden von ihren Guides instruiert, um anschliessend mit Helm und Neoprenanzügen die Schlucht rücklings bis zum Stausee zu erkunden.

Uns sind das eideutig zu viele Menschen hier, aber nicht wegen Corona, sondern der Natur und dem Erlebnis wegen. Die Fahrt entlang des Flusses ist abenteuerlich. Die Strasse schlängelt sich zeitweilig schwindelerregend an an den Felsen entlang. Er bieten sich immer wieder atemberaubende Ausblicke.

In der Tiefe des Canyons

“Lui Kartors*” und deutsche Exilanten

*Ludwig der XIV, auf französisch Louis quatorze 😉

Die Tage vergehen wie im Flug. Das Wetter ist super, fast schon manchmal zu heiß, selbst für mich. Dafür ist das Meer fantastisch. Vor der bevorstehenden Rückreise verabschieden wir uns mit einem Besuch auf dem Hausberg von Toulon, der Hauptstadt des Departement Var. Hier oben hat man einen wunderbaren Ausblick auf die 170.000 Einwohnerstadt mit ihrem riesigen Marinehafen. Hier ist der Heimathafen der französischen Mittelmeerflotte. In der Ferne kann man die Umrisse eines Flugzeugträgers und dreier U-Boote erkennen.

Schon vor etwa 500 Jahren gab es hier einen Militärhafen, der unter Ludwig dem XIV ausgebaut wurde. Die Flotte eroberte von hier aus das Mittelmeer (u.a. mit der sogenannten Schwarzmeerflotte) und ließ sich selbst auch dreimal versenken bzw. versenkte sich selber, zuletzt 1942 um sich den deutschen Besatzern zu entziehen .

Toulon mit seinem Militärhafen vom Mont Faron aus gesehen

Während eine Fähre in die Bucht steuert, flackern in der Dämmerung die ersten Lichter der Stadt auf. Unweit vom Hafen erstreckt sich westlich unseres Campingortes die Gemeinde Sanary-sur-mer. Hier, malerisch gelegen und vom besten Wetter gesegnet, befand sich über Jahre die Exilheimat vieler deutschsprachiger Künstler und Dichter, die vor den Nazionalsozialisten flüchteten. Unter ihnen keine Geringeren als Heinrich und Thomas Mann, Arnold Zweig, Bertholt Brecht und Lion Feuchtwanger, um nur wenige zu nennen.

Mahnmal auf dem Mont Faron bei Toulon

Die Deutsche Gemeinde hatte nicht nur vor den eigenen Wehrmachtstruppen und NS-Schergen Repressalien zu erwarten, sondern später auch von den Franzosen selbst: Ihnen wurde nicht getraut und viele zumindest für einige Zeit sogar interniert. Von den Greuel des Zweiten Weltkriegs zeugt heute ein Mahnmal mit Museum und einem amerikanischen Panzer und wenigem anderen Kriesgerät. Doch die Natur samt eines Zoos sprechen uns mehr an. Wir belassen es allerdings bei einem ausgedehnten Spaziergang im unendlich trockenen Wald.

Wundebarer Wald – höchste Waldbrandstufe

Irgendwann ist die Zeit dann aber wirklich rum und wir müssen uns entscheiden, wie wir die restlichen Tage verbringen wollen – und vor allem wo. Vielleicht bei meinem alten Kollegen Steffen (aus Bahrain) vorbeischauen in der Schweiz? Naja, ist etwas kurzfristig. Ausserdem wollen wir eine andere Route fahren, als auf dem Hinweg. Wir entscheiden uns für ein paar Tage im Tessin. Wir reservieren einen Campingplatz im südlichen Teil des Kantons, nicht weit von Lugano entfernt.

Die Bilder der Corona-Krise in Italien ist immer noch in unseren Köpfen, daher beschliessen wir, durch Italien (leider) nur durchzufahren. Zuletzt tanken wir hinter Nizza, die erste und einzige Pipi-Pause machen wir in einem Waldstück abseits der Autobahn nahe Genua. Bloß keinem Menschen begegnen. Weiter geht es durch die Po-Ebene und wir kreuzen den Fluss Ticino, der dem italienischsprachigen schweizer Kanton den Namen gibt: Tessin, italienisch Ticino. Schon haben wir Mailand passiert und mit Como sind wir auch schon in den Alpen wieder angekommen. Ein paar Kilometer weiter sind wir schon in Chiasso, der ersten schweizerischen Stadt.

Unser Campingplatz liegt auf einem Berg nahe der Ortschaft Meride. Die sogenannten “Facilities” sind ausgezeichnet: nicht nur Sanitäranlagen, sondern auch Kühl- und Gefrierschrank, Mikrowelle,… Nur das Zelt oder das Campingmobil muss man selber mitbringen.

Camping Meride, Tessin

Wir stellen das Zelt auf, essen und lassen den Abend ausklingen. Gegen 5 Uhr werden wir unsanft geweckt: Donnerschlag gang in der Nähe. Es blitzt. Wir sind hellwach. Da wir sehr großen Respekt vor Gewitter im Freien haben und dazu noch auf einem Berg sind, wollen wir nicht auf den Blitzeinschlag warten. Schnell gehts rein in die Buchsen und wir stürmen zum Auto nach unten. Kaum angekommen, setzt ein massiver Regen ein, Blitze, Donner. Wir machen es uns im Auto bequem und versuchen noch etwas zu schlafen. Gegen 7 Uhr etwa, ist der Spuk vorbei.

Beene hoch und abwarten

In der zweiten Nacht passiert genau das gleiche. Wiede stürmen wir wie die Kranken nach unten ins Auto. Wohlbemerkt: wir sind die einzigen! Alle anderen schnarchen weiter vor sich hin. Sind wir jetzt die Verrückten? Wir bekommen langsam Zweifel. Eine kurze Recherche im Internet ergibt: Wir machen es richtig! Das Zelt ist kein Schutz, das befindet auch der Verband Deutscher Elektrotechniker.

Ich habe dazugelernt: am Abend des dritten Tages will ich dem Schlafen im Sitzen zuvorkommen und bereite das Auto vor. Ein paar Sachen umgepackt, die Rücklehne umgeklappt, die Vordersitze maximal nach vorne geschoben und fertig! Ich staune über unser Auto: 2 Erwachsene und ein kleines Kind können mit ausgestreckten Beinen im Auto liegen, ohne die Karosserie zu berühren! Das hätte ich nicht gedacht! Jetzt kann das nächste Gewitter kommen! Doch dieses Mal bleibt es aus! Froh bin ich trotzdem, immerhin brauchen wir nicht im Dunkeln durch die Gegend zu latschen.

Lugano

In den folgenden Tagen erkunden wir Lugano und Locarno. Wunderschöne Städte, die immer wieder die unterschiedlichsten Menschen anzogen: Franz Kafka, Richard Strauss, Hardy Krüger, Caterina Valente lebten zumindest zeitweilig in Lugano. Die Schwesterstadt Locarno am Lago Maggiore beheimatete u.a. Karl Bleibtreu, Kleists Bettelweib (von Locarno) und der in Osnabrück geborene Erich Maria Remarque, um nur wenige zu nennen. Durch die Lage an der Südseite der Alpen muten Klima und Vegetation mediterran an, sogar Palmen säumen hier die Strassen. Im Hintergrund die schneebedeckten Walliser und Berner Alpen.

Mit der Zahnradbahn auf den Monte Bré

Über Lugano trohnt der Monte Bré, 900 m etwa über dem Meeresspiegel. Eine Zahnradbahn bringt uns hinauf. Nico freut sich über die aufregende Zugfahrt von etwa 15 min. Unser Portemonaie auch: schlappe 50 Eier kosten 15 min rauf und runter für 2 Erwachsene! Aber was solls, das Gewitter verzieht sich gerade und mit den wärmenden Sonnenstrahlen geben die Wolken den Blick frei auf den Luganer See. Ein Wahnsinns-Ausblick!

Ausblick auf den Luganer See

Weder Römer noch Lilliputaner

Nördlich von Locarno liegt das Verzasca-Tal, durch das der gleichnamige Fluß fliesst. Das Flussbett ist eng und die Strömung mitunter schnell. Aber es gibt eine bekannte Brücke, die Ponte dei Salti. Zwar wird sie fälschlicherweise als Römerbrücke bezeichnet, aber sie wurde erst im 17. Jahrhundert als Steinbrücke erbaut. Sicherlich gibt es höhere und spektakulärere Brücken. Genau genommen ist sie sehr klein, aber unter ihr hat der Fluß eine Schneise in die Felsen geschliffen. Sie ist nur so breit, dass zwei Leute nebeneinander laufen können. Zudem ist die seitliche Begrenzung noch nicht einmal hüfthoch. Weder Lilliputaner noch schwäbische Sparsamkeit waren ein Grund dafür, sondern Esel: die Arbeitstiere waren zu beiden Seiten mit Säcken bepackt und waren damit deutlich breiter als das Tier selber. Damit es aber trotzdem durchpasste, wurde die Mauer eben niedrig gehalten und die Säcke konnten darüber schweben.

Die “Römerbrücke” Ponte dei Salti

“Ich will noch ein bisschen Idioten gucken!”

Heutzutage sind die Besucher auch wie die Esel: massenweise latschen sie über die Brücke, die kleinen Parkplätze entlang des Tals hoffnungslos überfüllt. Und: ein Leute springen in die Fluten. Sogar Kinder sind dabei. Ist das hier legal so? Wir nehmen etwas Abstand, aber Nico ist fasziniert. Nicht etwa, dass er das auch machen möchte. Olga erklärt ihm die Situation und dass das ganz und gar nicht ungefährlich ist – idiotisch um es einfach zu sagen. Und dann, als wir gehen wollen sagt er doch glatt: “Mama, ich will noch ein bisschen Idioten gucken”. Zum Glück sagt er es auf Russisch 😉

Im Verzasca-Tal

Abstecher nach Italien

Wusstet Ihr, dass Italien von der Schweiz umgeben ist? Naja, zumindest ein kleines Bisschen: Unweit von Lugano, mitten in der Schweiz, liegt Campione, eine italienische Exklave. Sie ist nur 2,6 Quadratkilometer groß und die Häuser stapeln sich am Berghang. Die schönen Grundstücke reichen bis an das Ufer des Luganer Sees. Ursprünglich war es von einem langobardischen Herrscher dem Kloster Sant’Ambrogio in Mailand vermacht worden. Anschliessend gab es immer wieder ein paar Streitigkeiten, aber sowohl Napoleon Bonaparte wie auch die Verhandlungen des Wiener Kongresses standen dem kleinen Landzipfel eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber der Eidgenossen zu, bis es im 19. Jahrhundert Teil des Königreiches Italien wurde. Mussolini gab der Siedlung noch den Zusatz ” d’Italia”.

Torbogen von Campione, links im Hintergrund Lugano

Erst ab diesem Jahr (2020) ist es Teil der Europäischen Zollunion. Nicht etwa, dass es viel zu exportieren gäbe: der einzige Wirtschaftszweig war ein Casino, dass aber inzwischen pleite ist. Es stammt aus der Zeit des Erste Weltkriegs. Durch die (bisherigen) Steuervergünstigungen oder -freiheiten, hatten sich auch andere Europäer hier angesiedelt, u.a. Prominente wie Mario Adorf. Übrigens: ein Teil Deutschlands ist ebenso von der Schweiz umgeben: Büsingen am Hochrhein, nahe Schaffhausen.

Dahinter und doch daneben

Die Tage vergehen und irgendwann ist der Tag der Abreise gekommen. Unser nächstes Ziel heisst Würzburg. Die Fahrt geht über den San Bernardino. Bevor es durch zahlreiche Tunnel geht, machen wir noch einmal eine kurze Pause. An einem Rastplatz vertreten wir uns die Füße, nehmen die gepflegten Sanitäranlagen in Anspruch und geniessen den Ausblick hinter dem Gebäude.

Ein Kleinbus mit deutschem Kennzeichen kommt an und drei junge Leute steigen aus. Die Männer eilen schnellen Schrittes hinter das WC – und fangen an, an den Zaun zu pinkel. Genau in dem Moment will ich mein Foto machen. Hä? Was? Hab ich was nicht verstanden? Da steht eine saubere kostenlose (!) Toilette und die Jungs pinkeln dahinter?

Auf dem Weg zum San Bernardino

Na das ist ja ne Glanzleistung, hinter die Toilette zu pinkeln! Die steht doch hier!“, rufe den Jungs freundlich zu. Leichtes Gelächter, sie sind gut drauf. Während sie anfangen, Ihre “Geräte” wieder zu verstauen, versuche ich es anders: “Desch isch koa guate Sach, wenn d’Schwietzer Pulizei kommt, dan ziehts Eich die Schwänzli long un machts a Knötli nei!” (Das ist keine gute Sache, wenn die Schweizer Polizei kommt, dann ziehen die Euch den … lang und machen einen Knoten rein) versuche ich es auf gefälschtem Schwizerdütsch. “Ach die sind eh zu klein” antwortet der Eine. Eine so ehrliche Antwort hatte ich nicht erwartet. “Die habens abrr a Pinzettli dabi!” (Die haben auch eine Pinzette dabei) rufe ich amusiert, während die Jungens hektisch werden und schnell wieder abfahren. Was für ein Spaß! Odrrr nööööt…?

Blick von der Festung Marienberg auf den Main und Würzburg

Am Nachmittg kommen wir in Würzburg an. Zwei Nächte campen wir gemeinsam mit Verena, unserer guten Freundin aus Bahrain. Yousha, ihr Sohn ist auch dabei. Nico hat sich schon lange auf ihn gefreut und die beiden verstehen sich sofort wieder prächtig. Wir verbringen wunderbare Stunden, erkunden die schöne Stadt Würzburg decken uns ein: sie hat sich als Aromatherapeutin fortgebildet und beschäftigt sich mit Ölen. Öle sind ja bekannt für heilende Wirkungen auf den Körper.

Eines der Öle, die man auch über einen Diffusor verdampfen lassen kann.

Nico wurde am letzten Tag in Würzburg von einer Wespe direkt ins Gesicht gestochen. Dank des Öles konnten Schmerz und Schwellung schnell in Schach gehalten werden. Da war ich echt beeindruckt! Aber auch auf die Psyche üben die Öle ihre Wirkung aus: Da sie über unseren Riechkolben direkt ins Hirnli gehen, können sie binnen Sekunden Emotionen auslösen und beeinflussen. Wir informieren und versorgen uns für die nächsten Monate. Der Winter wird hart werden und nichts ist besser, als wenn man zu Hause in solchen Zeiten für eine angenehme Athmosphäre sorgen kann…

Wer mehr erfahren möchte kann hier gerne mal reinschauen: Verenas Seite bei Instagram.

https://www.instagram.com/oelsandco/

Der Tag unserer Heimreise ist gekommen, aber so weit ist es jetzt auch wieder nicht. Pünktlich 10 km vor Osnabrück passiert das, was es immer in Osnabrück gibt: es regnet… *

(*Osnabrück gehört zu den regenreichsten Städten Deutschlands)

Tachostand am Ende der Reise. Der Verbrauch lässt sich sehen
Unsere Reiseroute im Überblick (GoogleMaps)

Ein wunderschöner Urlaub in einer anstrengenden Zeit ist zu Ende. Dass Urlaub immer zu kurz ist, versteht sich von selbst, aber vielleicht reicht ja die getankte Wärme und Sonne, um uns die nächsten Monate gut zu überstehen. Bleibt alle gesund!

Denkbares zum Jahresende

Ich bin müde. Kaputt. Fertig. An Tagen wie diesen will man morgens gar nicht erst aufstehen. Ich habe Urlaub  – noch ein Grund mehr, um liegen zu bleiben, wenn da nicht dieser kleine laufende Wecker auf zwei kleinen Beinchen wäre. Nico klettert inzwischen gerne aus dem Gitterbettchen. Stolz steht er dann in unserem Zimmer und feixt, wie toll er das Hindernis überwunden hat. Olga muss sich schnell fertig machen, geht zur Schule. Sie macht seit einigen Monaten eine Ausbildung zur Physiotherapeutin, etwas was sie schon immer machen wollte.

Ich schäle mich aus dem Bett, im Rücken steif wie ein alter Mann. Aber es nutzt nichts. Eine Windel sollte man wechseln, bevor sie explodiert und die Reste an Decke und Wänden kleben. Olga ich kämpfen uns zusammen durch den brutalen Tagesbeginn. Das kleine Männchen wird fertiggemacht, wir kämpfen uns durchs Frühstück und das anschliessende Zähneputzen. Immerhin wollen ich nicht, dass er vorschnell eine regelmäßige Bekanntschaft mit dem Zahnarzt macht. Das Anziehen ist dann der nächste Akt in diesem Kräftezehrenden Drama. Er will die Jacke nicht anziehen, der eine Winterstiefel streift beim Vorbeifliegen mein rechtes Ohr und das andere Trommelfell wird durch lautes Geschrei fast weggepustet. Warum können Kinder denn nicht einfach im Ultraschallwellenbereich schreien??? Nach einigem Herumwälzen und beherztem Durchgreifen, schaffen wir es dennoch.

Die Tür geht auf, ich will mir die Schuhe anziehen, da rauscht Maggy – unsere schwarze Katze – raus in den Hausflur, eine Etage nach oben. Dort stehen die Blumen unseres Nachbarn zum Überwintern im Flur. Genüßlich und zielstrebig beginnt sie daran herumzuknabbern wie eine Ziege. Ich könnte ausrasten, aber die Kraft fehlt mir. Also Katze einfangen und dann weiter. Nico steht grinsend wie ein kleines Engelchen an der Treppe – der Herr möchte nach unten getragen werden. Na klar, was denn sonst. Und ich mit meinem Rücken…. Aber wenn wir jetzt noch diskutieren, dauerts noch länger. So geht das weiter, bis er endlich in der Kita angekommen ist. Und abends wieder anders herum. So ist das eben. Mit 2,5 Jahren geht´s rund, einer dreht immer am Rad.

Seit dem Sommer quälen wir uns allerdings mit unseren eigenen Wehwehchen. Ich hab bereits zwei Mal Antibiotika wegen Nasennebenhöhlenentzündungen schlucken müssen, sogar ein CT habe ich bekommen. Zwischendurch auch wiederholt eine Kehlkopfentzündung, wo mir nicht nur die Stimme, sondern auch die Luft etwas wegblieb. Also Kortison noch dazu geschluckt. Fast zeitgleich hatte Olga ähnliche Probleme. Nico hat`s gefreut, er konnte alleine schreien 😉

Und dann noch der Rücken: Vor ca. 2-3 Monaten habe ich mich irgendwie verhoben. Plötzlich ging nix mehr so richtig. Das ISG schmerzte und es dauerte Wochen, bis es endlich besser ging. Trotzdem merke ich immer wieder Beschwerden in diesem Bereich. Nico immer wieder auch ungünstig zu heben, macht es auch nicht besser.  Um es kurz zu machen: Ihr seht, ich werde alt!

Aber derlei Dinge nicht genug. Wenn der Chef auf Arbeit nicht versteht, warum man mit Fieber zu Hause ist und “krank macht”, dann habe ich dafür auch keine Worte mehr.

Wat mutt dat mutt! – Wirklich?

Jetzt sitze ich im Cafe und lasse die Situation auf mich wirken. Meine Nebenhöhlenentzündung klingt nur langsam ab und wird durch meine Hausstauballergie immer wieder etwas unterhalten. Antihistaminika helfen da. Ich möchte einfach wieder fit sein und Sport machen können! Das Leben spüren und nicht nur dessen Vergänglichkeit.

Und jetzt  noch angeschlagen im Urlaub. Warum im Dezember Urlaub? Nun ja, ich habe gemerkt, dass ich einfach eine Auszeit brauchte. Zum Nachdenken. Zum Planen. Nächstes Jahr stehen einige Veränderungen an: Facharztprüfung, neue Stelle suchen, dann wollen wir spätestens im Herbst wieder ein paar Tage in Bahrain verbringen,…

Jetzt mit einer heißen Schokolade in der Hand beginne ich den Morgen zu genießen. Ich beobachte die Leute, die das Cafe füllen. Kohlenhydratbomben und Heißgetränke gehen über die Theke, formelle und mitunter auch ehrliche Nettigkeiten werden ausgetauscht.

Ich werfe einen Blick auf meine Tasche, in der ein Notizzettel mit Erinnerungen an all die Sachen, die ich in dieser Woche machen soll, steckt. So viele Sachen sollte ich schon längst erledigt haben und warten sehnsüchtig auf meine Aufmerksamkeit. Ich habe keine Lust ihn herauszuholen. Ich will nicht. Ich habe keine Kraft. Ich bin müde. Ich will  einfach nicht! Der Alltag ist übersät mit Pflichten und Zwängen. Dies und Das und Jenes. Alles Dinge, die sein “müssen“, die “zum Leben” gehören, wie man sagt.

Ich werde philosophisch in meinen Gedanken, jetzt, da ich gerade hier sitze und den Augenblick genieße. Besser gesagt: ich lebe diesen Augenblick, diesen  unscheinbaren Moment und er kommt mir hundertmal wichtiger vor, als all die “wichtigen” Dinge, die “doch das Leben” ausmachen. Warum? Weil ich gerade ganz bei  mir bin.

Müssen, müssen, müssen, immer nur müssen. Um jemand zu sein, etwas zu schaffen, darstellen zu können, oder “ein gutes Leben” zu haben. Was ist ein gutes Leben? Arbeiten um zu leben, aber eigentlich lebt man nur für die Arbeit. Das habe ich ja schon im Krankenhaus immer wieder erlebt. “Ja, aber sie  bekommen ja dies und das und jenes gezahlt…”  Immer wieder wird das finanzielle Argument ins Feld geführt. Wenn man dieses Geschäft eingeht “zahlt” man jedoch drauf: die Kraft, Zeit, das psychische Wohlergehen und die sozialen Kontakte, die man dafür opfert sind zu wertvoll. So viel kann man gar nicht gezahlt bekommen! Und: kein Geld der Welt kann diese Dinge ersetzen oder kompensieren! Man verausgabt sich im Hamsterrad der Gesellschaft. Der Versuch, menschliche, psychische Bedürfnisse durch Geld und Konsum zu befriedigen, scheitert. Es ist Selbstbetrug.

Natürlich ist es das nur dann, wenn man nicht gelernt bzw. geschafft hat, Grenzen zu ziehen. Und das können erfahrungsgemäß nur die allerwenigsten Menschen, egal in welcher Branche.

“Kacke Attacke!” – Mitten im Leben

Meine Gedanken schweifen ab, als ich ein kleines Mädchen sehe, das genauso herumzetert wie Nico heute Morgen. Was in diesen kleinen Köpfchen so vor sich gehen mag? Wie wenig meine Gedanken gerade von Belang sind für solche kleinen Würmchen. Die sind voll und ganz im Hier und Jetzt. Gelebte Achtsamkeit könnte man sagen. Die brauchen keine Anleitung dazu, wir schon. Genausowenig die Ehrlichkeit: da wird alles herausposaunt, was einem gerade durch den Kopf geht. Nico zum Beispiel: gestern saß er auf seinem Stühlchen, hob plötzlich den Arm und schrie “Kacke, Attacke!!!” und amüsierte sich köstlich.

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“Kacke Attacke!” – Kein Autonomer vom schwarzen Block, einfach Nico…

Ich muss grinsen bei diesem Gedanken und dann tauchen wieder  die kräftezehrenden Bilder von heute morgen auf. “Mitten im Leben” kann man sagen. Mir fällt immer wieder auf, wie sensibel diese Kleinen sind. Sie nehmen alles wahr, auf und  können vieles noch nicht richtig deuten. Sie sind empfindsam, zerbrechlich, aber auch stark und manchmal auch brutal. Momentan sind wir ständig dabei, Nico in seine Schranken zu weisen: “Nein, der Teller wird nicht durch die Küche geworfen!” oder “Mama wird nicht gehauen!” sind nur zwei von unzähligen Beispielen. Natürlich machen diese Dinge Sinn, zweifelsohne, aber wir beschneiden auch viel von der Spontanität und einer gewissen (manchmal nervigen) Ehrlichkeit dieses kleinen Menschen, wenn wir ständig sagen “mach Dies oder Das” oder “Laß Das und Jenes!”.

In dem von mir kürzlich absolvierten “Kurs der psychosomatischen Grundversorgung” berichtete ein Psychoanalytiker über das Beispiel eines Kindes, das in der Mitte des 20. Jahrhunderts als Tochter einer Apothekerin aufgewachsen war. Als das Mädchen 1-3 Jahre alt war, nahm es die Mutter immer mit in die Apotheke zur Arbeit. Dort breitete sie eine kleine Decke aus, auf der sie das Mädchen setzte. Es durfte sich aber keineswegs von der Decke wegbewegen, nichts anfassen nicht schreien, nicht pupsen, gar nichts. Schließlich saß die Kleine stundenlang nur noch still auf der Decke und wippte von einer Seite auf die andere, in sich gekehrt. Später entwickelte sie eine Zwangserkrankung, so der Psychotherapeut. Das Mädchen wurde quasi aller spontaner altersgemäßer Bewegungen geraubt, Impulse massiv unterdrückt und dem Zwang so der Weg geebnet.

Firlefanz

Natürlich entwickelt nicht jeder eine Zwangserkrankung, aber es rüttelte mich etwas wach, da ich Nico schon sehr in die Schranken wies, wenn er zu sehr plärrte, zu viel irgendwo rumpopelte usw. Aber: Was ist zu viel? In erster Linie war es mir zu viel, nicht ihm. Ich bin eher nur nach meinen Bedürfnissen gegangen, weil ich müde war und zur Arbeit musste, oder Ähnliches. Ich hatte “keine Nerven für Firlefanz“, weil meine Energie und Kraft von der Arbeit gebunden waren… Für ihn war es aber irgendwie ja kein “Firlefanz“, gemessen an seiner Entwicklung eben.

Bei dem Gedanken, daß Nico ja auch von mir lernt, wie man mit Stress umgeht, wird mir fast übel. In diesem Moment also, wo ich gestresst war und so reagierte wie ich eben reagierte, zeigte ich ihm unbeabsichtigt meinen Weg, Stress zu verarbeiten. Und diesen Weg versuche ich eigentlich zu ändern, weil er mir nicht gut tut.

Also, wie soll ich mein Kind erziehen? Es soll ein “anständiger”, “gesellschafts-konformer Bürger” werden, aber er soll doch auch die Freiheiten haben, die er braucht, um sich zu entfalten, oder?

Und trotzdem muss ich ihn schon hier in gesellschaftliche Normen pressen, die ja auch vernünftig sind. Er soll ja auch ein Mitglied der Gesellschaft werden und kein “störendes Randgruppenelement”, kein Aussenseiter. Er “soll Etwas werden“, vor allem aber soll er glücklich werden. Und das ist natürlich an gewisse Umgangsstandards gebunden – aber auch an Entwicklungsfreiräume, die uns vielleicht unsinnig erscheinen.

“Eben mal” das Kind erziehen – WICHTIGER als der Job

Also bin ich in meiner Elternrolle gefragt, ganz klar. Das erwarte ich auch von jedem anderen Vater. Trotzdem steht dies in einem (immer noch) ganz starken Kontrast zum gelebten gesellschaftlichen Ansehen und Wertschätzung.  Es wird verlangt, dass Erziehung “nebenbei” stattfindet. Wenn der Chef komisch guckt, weil Mutti oder Vati beim kranken Kind zu Hause sind, dann ist das nur ein Beispiel. Andere sagen ganz ehrlich, sie stellen keine jungen Mütter ein – und das im 21. Jahrhundert!

Die Hauptpflicht ist die Erfüllung der Arbeitsaufgaben, was man mit der Familie macht ist egal, Hauptsache diese ist untergeordnet!  Wir erleben es bereits mit einem Kind, wieviel Aufmerksamkeit es braucht, wie oft man sich die Zeit nehmen muss, Geduld aufbringen muss, um ihm die Welt zu erklären, die so viel Schönes, aber auch Schmerzhaftes bereithält. Es ist einfach schwierig für solche kleinen Zweibeiner und unsere Hauptaufgabe ist nun mal, bei ihnen zu sein und ihnen dabei zu helfen groß zu werden. Und das ist wichtiger als der Job und irgendwelche anderen Verpflichtungen!

Was passiert, wenn man die Familie unterordnet sehen wir ja: Kindergarten und vor allem Schule müssen das nachholen, was Eltern nicht gemacht oder geschafft haben: eine vernünftige Sozialisierung eines jungen Menschen, die zu Hause anfängt. Interpersonelle Kommunikation, das Erleben von Gefühlen und der Umgang mit ihnen. Und das braucht Zeit! Aufmerksamkeit! Geduld! Und die gibt es in unserem “modernen” Leben nur noch in homöopathischen Dosen.

Spätestens aber ab der Schulzeit beginnt aber, wie ich meine, etwas Verhängnisvolles: Indem wir im Laufe der Jahre immer strenger in unserer Leistung bewertet werden und wir eigentlich nur noch über die erbrachte Leistung als Bewertungsmaßstab wahrgenommen werden, lernen wir, ausschließlich über unsere Leistung gewertschätzt zu werden. Mathe, Physik, Englisch, Sport usw., das sind alles nur schmale Bereiche des menschlichen Lebens, gemessen an der Vielzahl von Qualitäten und Fähigkeiten eines Menschen, der Persönlichkeit. Ihn faktisch also nur darüber eine de facto alleinige Wertschätzung zukommen zu lassen, kann doch nur irgendwie unfair sein. Wer benotet schon “Empathie” oder gar “Nettsein”? 😉

Besonders durch immer steigende Ansprüche an Schüler und Studenten vergrößern wir auch die Möglichkeit, dass Menschen diesen nicht gerecht werden können und eine entsprechende Ablehnung ihrer Person empfinden. Der Absturz oder die “verbockte Weiterentwicklung” ist abzusehen. Würdevolles Selbstverständnis und ebensolcher Umgang mit anderen lassen sich nicht anhand von PISA-Studien messen.

Abgestellt auf dem Schrottplatz der menschlichen Individuen?

Auf der anderen Seite finden wir die eigentlich erfolgreichen Menschen der Student, der seit x-Semestern nicht mehr “weiterkommt” mit seiner Bachelor-Arbeit, der darüber so verzweifelt ist, dass er depressiv vor mir sitzt und an ein Ende des Lebens denkt. Oder der Abteilungsleiter, der “ausgebrannt” ist, der aber zu Hause noch die dicken Akten von der Arbeit zu liegen hat und sich Gedanken um die Reaktionen des Chefs macht.  Beide definieren sich über ihre Arbeit, haben Ansprüche, die in keinem Verhältnis zu ihren Ressourcen und menschlichen Eigenschaften stehen. Auch sie haben es “erfolgreich” gelernt, sich anscheinend hauptsächlich über ihre Leistung zu definieren.

“Pass auf Dich auf!”

Und jetzt? Abgehängt, ausrangiert, erledigt, nutzlos? “Notschlachtung“? Das trifft übrigens auch auf all die älteren Arbeitnehmer zu, auch wenn sie noch “in Kraft und Saft” stehen. Der “Leistungs-TÜV” wartet nicht und wird mit jedem Lebensjahr immer schärfer… Die “Ausrangierten” –  das ist auch so eine Parallelgesellschaft. Und bedroht deren Ausgrenzung und “Kranksein/Krankgemacht-Sein” uns nicht mehr, als die Migrantenfrage?

Was sie bei all dem Studium und Arbeiten nicht gelernt haben: auf sich selber aufzupassen. Was tut mir gut, was nicht? Das lernt man leider nicht auf der Schule und auch nicht auf der Uni, dabei wäre es doch eines der wichtigsten und auch praktischten Fächer überhaupt.

Um mal zum “greifbaren Körperlichen” zurückzukommen. Erst kürzlich kam ein Patient zu mir, etwa Ende 50. Leicht untersetzt, graue Haare, Hemd, Jeans. Dicke Brillengläser machten seine Augen beim Blick durch die Brille ganz klein, so wie die Knopfaugen von Nicos Teddybär. Das Gesicht gerötet, leicht hektisch, ungeduldig wirkend, gefühlt “Typ Choleriker“. Er habe vor kurzem immer wieder bei einem Bekannten den Blutdruck gemessen, und dieser sei zu hoch gewesen. “Das hatte ich doch noch nie!”, sagte er entrüstet, ganz als ob er enttäuscht über sich selbst wäre. Er sei in der Manager-Etage eines großen Unternehmens, hätte Führungsaufgaben und Personalverantwortung. Obwohl ich die Antwort schon absehen konnte, fragte ich, ob er denn viel Stress hätte. Ich hatte eigentlich ein “Ja, natürlich! Was für eine Frage!” erwartet. Statt dessen sagte er mit funkelnden Augen und mit leicht überheblicher Stimme: “Stress ist eine Krankheit der Leistungsschwachen!” Er sei ein Machertyp, keiner, der sich mit Stress abgebe…

“Stress ist eine Krankheit der Leistungsschwachen”

Dieser eine Satz war frappierend ehrlich. Er sagte so viel aus über ihn, mehr als über die anscheinend verachteten “Anderen”. Ich muß ehrlich gestehen, dass ich selten so glücklich darüber war, zu den Leistungsschwachen zu gehören…

Um es einmal ganz simpel auszudrücken: Egal ob Student, Abteilungsleiter oder “ausrangierter” Schüler, wir  “leisten” es uns, zunächst massenhaft kranke Menschen zu “produzieren” um diese dann “teuer zu therapieren“.  Macht das Sinn? Ist das der Sinn von Nachhaltigkeit, von der ja so viel gesprochen wird? Wenn wir nicht gelernt haben, nachhaltig mit uns selber umzugehen, wie soll das dann bloss mit der Natur funktionieren? Nicht, dass ich das für unlösbar halte, aber für überlegenswert…

Hasta la Vista, Baby!

Es ist Abend. Nico hat zuende gespielt, gegessen (manchmal das gleiche wie Spielen), Zähne geputzt (was für ein Kraftakt!), Windel gewechselt, Schlafanzug angezogen, Schlafsack drüber. Heute hat Fiona´s Mama Geburtstag. Fiona ist Nicos Babysitterin und Nico mag sie sehr. Manchmal ruft er im Hausflur nach ihr oder fragt “Kommt heute Fiona?” Wir klopfen, Glückwünsche werden ausgetauscht und nach einem kurzen Gespräch soll es eigentlich wieder nach oben gehen. Fiona kriegt von Nico ein Küsschen, die Mama, sogar der Papa von Fiona und Nico wundert sich noch über die kratzenden Bartstoppeln in Helmuts Gesicht und muß gleich mal bei mir nachprüfen, ob das so richtig ist. Doch Fiona hat Besuch: zwei junge Mädchen kommen aus ihrem Zimmer und wollen gehen. Klar, Nico knutscht die beiden auch noch ab! Er freut sich, im Mittelpunkt zu stehen und so viel Aufmerksamkeit zu bekommen. Auf dem Treppenabsatz wirft er “seiner” Fiona noch ein Luftküsschen zu und plötzlich ruft er “Hasta la Vista, Baby!” Alle lachen und er gluckst vor Freude. Natürlich hatte ich das vorher aus Spass zu ihm gesagt und er freut sich über neue Sprüche. Beim Ins-Bettchen-Legen, verrate ich ihm einen neuen Spruch: “Good night, Baby!” Er grinst und flüstert “Good nacht, Baby“…

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Geschafft: Im Heierchen mit Hund und Schlange

 

Liebesgruesse aus ¨Piter¨

 Es ist mal wieder soweit: Urlaub. Dieses Mal steht eine Reise an, die eigentlich schon längst überfällig ist: ein Besuch in Russland. Drei ganze Jahre sind wir nicht dort gewesen, Nicos Ur-Oma kennt “Nico-Mann” nur von Skype bzw. What’sApp-Telefonaten. Kränklich und fast 92 Jahre auf dem Buckel, kann jeder Tag der letzte sein. Überhaupt ein Wunder, dass sie so lange durchgehalten hat. Vielleicht treibt sie auch der Wunsch an, in ihrem Leben Nico mal im Arm zu halten, bevor sie das Zeitliche segnet.
Drei Jahre etwa ist es auch her, dass sie sich das letzte Mal aus der Wohnung getraut hat. Zu weit ist der Weg aus dem fünften Stock durch das dunkle Treppenhaus, unklar, ob sie den Rückweg schafft. Und auf der Strasse vor dem Haus: tausend Stolperfallen, nicht nur für ältere Menschen.

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Nico studiert schon mal die Sicherheitshinweise

Für Nico, unseren ¨kleinen Russen¨, ist es die erste Russland-Reise, für mich wird es das erste Mal sein, mit einer russischen Fluglinie zu fliegen.

Solche und solche – also welche?

Los geht es ab Düsseldorf. Mit unseren Pässen in der Hand stellen wir uns in die lange Schlange vor der Passkontrolle. Ungefähr 80 Leute stehen da aus allen möglichen Ländern. Zwei Beamte kontrollieren im üblichen Beamtentempo die Pässe. Neben uns zwei weitere Schalter für EU-Bürger, an denen nur wenig los ist. Wegen Olgas russischem Pass müssten wir ja getrennt durchgehen, aber Familien zu trennen macht -für den normalen Verstand- wenig Sinn, zumindest mit kleinen Kindern. Zudem hat Olga ja einen gültigen Aufenthaltstitel und würde daher auch nicht ganz mit den anderen zusammen passen.

Ich gehe zu einem der Kontrollhäuschen und frage den jungen Beamten, ob wir denn nicht als Familie und Aufenthaltstitel usw. zusammen hier durchgehen könnten. Er guckt mich grimmig an. ¨Nein, das geht nicht!¨ sagt er. In seiner Stimme schwingen Machtbewusstsein und eine gewisse Überheblichkeit mit. Wenn man einen Teil seiner Kindheit in der DDR aufgewachsen ist, weiss man, wann es Sinn macht zu diskutieren und wann nicht. Ich stelle mich wieder zu Olga und Nico in die Schlange. Wie wir so stehen, wird Nico so langsam ungeduldig und beginnt zu quängeln. Zudem sind auch noch die Windeln voll und ausgeschlafen ist er zu so früher Stunde auch nicht. Also entscheiden wir uns dazu, dass Nico (deutscher Pass) und ich zusammen durchgehen. Ich gehe dieses Mal zu dem anderen Schalter und lege die Pässe vor.

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Wenn man’s erst einmal geschafft hat…

Irgendwie kann ich es mir doch nicht verkneifen, eine gewisse Diskriminierung anzumerken. Der junge Beamte guckt hoch und fragt freundlich: ¨Wo ist denn die Mama?¨ Ich zeige in die Schlange. ¨Sie soll kommen!¨, er winkt. Nun stehen wir also unerhofft wieder zusammen an dem Häuschen, die Unterlagen werden bearbeitet und Olga bekommt noch ein paar Tipps zu ihrem Aufenthaltstitel. Ich zwinkere noch dem anderen grimmigen Beamten zu, der uns zuerst weggeschickt hatte. Und dann sind wir durch, ganz schnell. Geht doch! Alles nur Willens- und Ermessensfrage! Und: es gibt immer solche und solche.

Fliegen mit “Äroflöt

Es ist das erste Mal, dass Nico ein eigenen Sitzplatz hat im Flugzeug, eine Erleichterung für uns, weil er jetzt nicht mehr auf unserem Schoß sitzen muss. Wir fliegen mit Россия (Rossija), einem Ableger von  Аэрофлот (Aeroflot). Es war die einzige günstige Verbindung nach St.Petersburg mitten in der Zeit der Fußball-Weltmeisterschaft, die wir noch bekommen konnten. Der Flug ist recht kurz, wir lassen schnell Polen unter uns vorbeiziehen und schon erstreckt sich die Ostsee unter uns. Getränke und Knabbereien werden sparsam verteilt. Es ist eben eine low-cost oder Budget-Airline.
Kurz vor der Landung kommt Olga mit einer anderen Passagierin ins Gespräch. Sie heißt Anna, stammt aus St. Petersburg und hat gerade Ihren Verlobten in der Nähe von Osnabrück besucht – ach nee, so klein ist die Welt. Sie spricht bereits etwas Deutsch und wartet auf die Dokumente für die Hochzeit. Die Landung verläuft problemlos, ich habe meinen Jungfernflug mit einer russischen Fuglinie überlebt. Nach der Landung klatschen die meisten Passagiere. Eine eigenartig anmutende Sitte. Nur ein Relikt aus der Vergangenheit oder doch nur Glück? Ich denke, es ist Ersteres.

“Ленинград город герой” – Leningrad, Stadt der Helden”


Wir rollen über das Flugfeld, vorbei am Tower und an endlosen Flughafengebäuden. Mit lateinischen und kyrillischen Buchstaben begrüßt die Stadt die Besucher: St. Petersburg -Leningrad-Heldenstadt. Schon hier soll der Ankömmling die Bedeutung der Stadt für die russische Seele beginnen zu begreifen , doch dazu später mehr.

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Leningrad, Stadt der Helden – Begrüßung am Flughafen

Im Terminal gibt es die Möglichkeit, ein Taxi zu einem Festpreis zu bestellen. Immerhin haben wir einen großen Koffer dabei, den Buggy für Nico und die ein oder andere Tasche. Anna begleitet uns noch ein Stück Richtung Taxistand, dann trennen sich unsere Wege. Unser Taxifahrer heisst Marat und kommt aus Usbekistan. Er ist ein typischer Gastarbeiter aus Zentralasien. In den grossen Städen Russlands, vor allem aber Moskau gibt es zunehmende fremdenfeindliche Gewalt gegen Gastarbeiter aus diesen ehemaligen Sowjetrepubliken. Besonders natürlich die vielen Illegalen habe darunter zu leiden, aber auch jene, die einfach so aussehen, weil die Eltern oder Grosseltern einst aus diesen Regionen stammten. In Moskau -und vielleicht nicht nur dort- gibt es regelrechte organisierte Gruppierungen, die sich zur Aufgabe gemacht haben, Illegale oder vermeintliche Kriminelle aus auf solchen Regionen aufzuspüren und zu melden, zu bedrängen, zu bedrohen. Doch nicht nur das. Gewalt spielt zunehmend eine Rolle, Schutz können sich diese Menschen nicht erhoffen.

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Neue Autobahn


Marat versichert uns, solche Probleme nicht zu haben. ¨Piter¨, wie St. Petersburg liebevoll von seinen Bürgern genannt wird, sei anders als Moskau, freundlicher. Eben anders.
Sicher und mit ruhigem Gaspedal fährt er uns der mit 5 Millionen Einwohnern zweitgrössten Stadt Russlands entgegen. Auf einer neuen grossen Autobahn, die sicherlich für die Fussball-WM gebaut wurde, geht es vorbei an unzähligen Baustellen. In der Ferne sieht man noch grössere Bauprojekte. Bei diesem Anblick und ohne Schlaglöchern (!), hat man fast das Gefühl in einem anderen Land zu sein.
Mit Mühe finden wir in der Nähe eines Handelshafens und einem Industriegebiet unser Hotel, das “Baltiskaya”. Es scheint ein typischer 60er Jahre-Bau zu sein mit dem konservierten Charme der Sowjetzeit. Mit dem Koffer um die hier wieder reichlich gesäten Schlaglöcher herummanövrierend, die grossen Treppenstufen hinauf, sind wir bereits das erste Mal verschwitzt.
Die Dame an der Rezeption nimmt unsere Pässe entgegen und wir bekommen die Schlüssel. Der Fahrstuhl ist so klein, dass wir nicht alle zusammen (selbst ohne Buggy) hineinpassen. Drinnen empfängt uns schlechte Luft und Dimmerlicht. Aber er fährt. Im Zimmer setzt sich der Charme von unten fort, um im Bad harmonisch auszuklingen…

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Hotel “Baltiskaya”

Die Fensterscheiben haben anscheinend schon länger keinen Kontakt mehr mit Wasser gehabt, aber die Bettwäsche ist sauber. Na gut, immerhin ist es schwer in dieser Metropole ein Hotelzimmer zu einem vernünftigen Preis zu finden und jetzt zur WM hätten wir locker das Vielfache ausgeben können.
Ich drehe den Wasserhahn auf, möchte mir Hände und Gesicht waschen. Doch das Wasser riecht, nein stinkt regelrecht nach Metall! Es ist ekelig! Auf dem Gang hatte ich einen Wasserpender gesehen, der mit frischen Wasserflasche befüllt wurde. Mit 3 Flaschen à 1,5l melke ich also diesen Wasserspender. Jetzt kann ich mir die Hände waschen… Herrlich!

Immer den Chinesen hinterher!

Nach einer kurzen Ruhepause zieht es uns nach draussen, wir müssen ein paar Lebensmittel kaufen. Anschliessend wollen wir einen ersten Eindruck von der Stadt bekommen. An der Rezeption erkundigen wir uns nach dem einfachsten Weg ins Zentrum.

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Das Gebäude einer verlassenen Marine-Akademie

¨Wenn Ihr ganz viele Chinesen seht, dann seid Ihr da!¨, sagt die Dame und wir machen uns auf Richtung Bushaltestelle. Pfützen, Schlaglöcher, lose Steine säumen unseren Weg. An dem verlassenen und fast verfallenen Gebäude einer Marineakademie warten wir auf den Bus. Man merkt, St.Peterburg ist eine Metropole, deren Geschichte eng mit dem Meer verbunden ist. Gelegen an der Newa, mitten im sumpfigen Delta des Flusses, wurde sie 1703 von Peter dem Grossen gegründet. Aber schon vorher gab es Siedlungen und das Gebiet war Zankapfel zwischen dem (damals) starken Schweden und einem russischen Staat namens Nowgorod (nicht die Nischnij Nowgorord), der sich zwischenzeitlich zwischen Ostsee und dem nördlichen Ural ausdehnte.

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Seitenstrasse mit Blick auf die Admiralität

Die Siedlung auf der vorgelagerten Insel Kotlin trägt seitdem den schwedischen Namen Kronstadt . Auch andere schwedische Siedlungen hat es hier gegeben. Der grosse Peter wollte aber gerne Zugang zum Meer für sein riesiges Reich haben. Zeitgleich wollte er aber auch seine Hauptstadt hier bauen, die als ¨Fenster nach Europa¨ wirken sollte. Durch die unwirtlichen Naturverhältnisse und die brutal-ärmlichen Bedingungen zur damaligen Zeit, fanden Zehntausende Zwangsarbeiter bei der Verwirklichung Peters Vorhaben den Tod.

Der Bus kommt, wir steigen ein. Die Fahrt geht vorbei an den Fabrikanlagen, von denen einige sehr sehr alt wirken, modernen Bürogebäuden, und herrlichen Altbauten. Immer wieder trifft man auf Zeugnisse der Seefahrt, sei es die zivile oder die Kriegsmarine. Der Bus hält an einer Art Marinemuseeum, davor stehen eindrucksvoll mehrere kugelige Stahlungeheuer, die kleine Noppen oder Stacheln zu haben scheinen. Das müssen Seeminen sein. Daneben eine Art Taucherglocke, so wie sie vor Urzeiten verwendet wurde. Und dann ist da noch ein kleines Modell eines U-Boots. Leute steigen aus, andere ein und der “Konduktor“, die Fahrkartenkontrolleurin, geht rum und verkauft Fahrkarten. Die Busse sind neu, sauber, ein Monitor zeigt die Strecke und die nächste Haltestelle an.

Venedig des Nordens

Wir nähern uns dem Zentrum: grosse, stattliche, bisweilen prunkvolle Gebäude zu beiden Seiten, unzählige Kanäle mit Brücken bringen uns der ¨Admiralitayskaya¨ näher, der Admiralität und dem zentralen Punkt. “Olga, hier gibt es Chinesen! Wir sind im Zentrum!¨, sage ich. Wir steigen aus und lassen uns treiben in dem Fluss der Passanten und lassen die Eindrücke der ersten Schritte in dieser Riesenstadt wirken.
Nach mehreren Kilometern zwingen uns Müdigkeit und Erschöpfung nach einem Abendessen zur Rückkehr. Nico hängt auch schon auf halb acht im Buggy, den wir uns von der Familie meines Bruders ausgeliehen hatten. Auf russischen Strassen ist es wie ein Härtetest für dieses Leichtgerät. Mal schauen, ob dieser zu einem Crashtest mutiert…

Am nächsten Morgen sind wir etwas gerädert. “Etwas” ist noch untertrieben. Irgendwie war das gestern doch etwas anstrengend, zumal Nico nicht einschlafen und das Gezeter und ¨Geflöte¨ (Rumquaken, rumschreien etc.) gefühlt gar kein Ende nehmen wollte. Während wir unsere Knochen ¨zusammensuchen¨ ist Nico natürlich putzmunter: Nachttischlampen werden bewegt, Lichtschalter geknipst wie Stroboskoplampen in der Disko und Steckdosen untersucht. Boah, ich könnte ausrasten!

Nach einem Frühstück mit Gezappel und Gezeter und Chinesen (die bevölkern auch das Hotel)geht es langsam los.
Es hat geregnet, die Pfützen vor dem Haus sind gut gefüllt, aber die Sonne kommt raus und bringt das Wasser eines nahen Flussarms der Newa zum Glitzern. Mit dem Bus geht es wieder in die Innenstadt. Bei herrlichem Wetter geht es über recht gute Gehwege zur Admiralität.

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Admiralität mit Schiffchen auf der Turmspitze

Hübsche Parke erstrecken sich hier, Blumen blühen, die Menschen flanieren.
Das imposante Gebäude, dass nach seinem Bau zu Beginn des 18. Jahrhunderts zunächst als Werft gedient hatte, wurde später zum Hauptquartier der Russischen Marine: zunächst der des Zaren und nach einer Unterbrechung während der Sowjetzeit ist sie seit 2012 auch nun wieder das Hauptquartier der Marine der Russischen Förderation. Die vergoldete Kuppel, die an der Spitze ein kleines Schiff trägt, ist weithin sichtbar. Von diesem zentralen Punkt aus wurden die grossen Prachtstrassen -die Prospekte– ausgerichtet, von denen aus man auch in kilometerweiter Entfernung die Kuppel sehen kann.

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Spaaaaaaß!

Wir passieren joggende Soldaten, Seemänner in Marineuniform. Nico ist beeindruckt und versucht mit den kräftigen Mannen Schritt zu halten – und wir mit ihm. Er hat sichtlichen Spass daran. Wir sind kaputt. Wir entdecken einen kleinen netten Spielplatz neben der Admiralität. Nico und Olga schaukeln und ich vertiefe mich in den Reiseführer.
Beim Durchblättern -ich hatte vorher leider keine Zeit mich wirklich vorzubereiten- wird mir noch deutlicher, wie gross diese Stadt ist und wie viel sie zu bieten hat. Wahnsinn! Mir wird klar, wir werden nur einen kleinen Teil sehen können. Hier muss man wirklich viel Zeit mitbringen!

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Der Eherne Reiter: Sieg über die Schweden

Nach einem Eis geht es weiter zur Newa. Hier steht der Eherne Reiter, neben der Admiralität eines der Wahrzeichen der Stadt. Auf einem riesiger Findling, der als Sockel dient erhebt sich Peter der Grosse auf einem Pferd in den Himmel. Die Vorderhufen in die Luft hebend, steht das Pferd auf den Hinterbeinen und zertritt dabei eine Schlange. Dies soll den Sieg über die Schweden darstellen, die Schlange symbolisiert die Schweden. Die Inschrift am Sockel ¨Peter dem Ersten – Katharina der Zweiten¨ verrät, wie sehr sich die einstige Grande Dame emporheben und verewigen wollte.
Wir schlendern weiter Richtung Isaaks-Kathedrale. Am Abend zuvor konnte ich sehen, wie Menschen auf die Plattform hoch über der Stadt geklettert waren. Das will ich auch.
Das Gotteshaus gehört mit ihren 101,5 m Höhe zu den grössten sakralen Kuppelbauten der Welt.

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Die Isaaks-Kathedrale

Die Besucherplattform ist natürlich nicht so hoch, aber sicherlich trotzdem interessant. Nico und Olga wollen lieber unten bleiben. Eine Wendeltreppe führt in unzähligen Biegungen nach oben auf ein Zwischenpodest. Anschliessend geht es über ein Dach und einer weiteren Treppe noch ein paar Meter höher. Von allen Seiten hat man einen wunderbaren Ausblick, unter anderem, weil die Befestigungen nicht so streng sind. Das nutzen einige aus. Ein Mann schiebt sich an mir vorbei, klettert über das Geländer und posiert mit emporgehobenen Armen für ein Foto – zwei Schritte hinter ihm geht es steil abwärts….

 

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Ausblick von der Besucherplattform

In den Sommermonaten ist es möglich bis ca. 4 Uhr hier oben zu sein! Das wäre sicherlich fantastisch, aber für uns leider momentan nicht drin.
In die Kathedrale kommt man heute leider nicht rein, obwohl dies sicherlich sehr interessant gewesen wäre.

 

Gebeine unter den Füssen

Was mich bei St. Peterburg immer wieder erstaunt ist die “Internationalität” bereits in der Anfangszeit. Dass heutzutage eine Vernetzung und reger Austausch zwischen Menschen in unterschiedlichen Ländern besteht, daran haben wir uns gewöhnt und ist auch Teil der sog. Globalisierung. Doch umso erstaunlicher ist der überaus rege Austausch vor 200, 300 Jahren. Der Zar hat unzählige Bauwerke von französischen, deutschen und vor allem italienischen Architekten und Baumeistern bauen lassen, Wettbewerbe zwischen diesen “Experten¨ ausgeschrieben und hat scheinbar ein reges Kommen und Gehen am Hofe befeuert. Natürlich gab es das in anderen Städten Europas auch und stellt für sich ja keine Besonderheit dar. Aber in diesem Fall St. Petersburg erstaunt es mich angesichts der Grösse der Stadt, die aus dem Sumpf gestampft wurde, besonders. Es war ein ehrgeiziges Projekt an einem sehr unwirtlichen Ort, zumal noch umkämpft. Die Ambitionen eines reichen Mannes, Herr über ein riesiges Reich -z.T. Noch nicht richtig erforscht- mit einer sehr armen Bevölkerung, der ein ¨Fenster zur Welt¨ erschaffen wollte. Er wollte Russland an den Fortschritt im restlichen Europa der damaligen Zeit anschliessen, zumindest aber sich selber ¨connecten¨ – und darstellen. Daher das emsige Bestreben, Künstler und Baumeister von Rang und Namen der damaligen Zeit herbeizuzitieren. Man könnte von einer “historischen Arbeitsmigration” sprechen, zugegeben kein Massenphänomen im eigentlichen Sinne. Was die Arbeiter betraf, die den sumpfigen Untergrund trockenlegten und durch Arbeit krank wurden und ihr Leben lassen mussten, so war es schon ein ¨Massenphänomen¨. Man kann sagen, dass weite Teile der historischen Stadt auf Knochen gebaut wurden. Zehntausende liessen ihr Leben. Zumeist handelte es sich um zwangsrekrutierte Leibeigene.

Von einer Jägerin und Sammlerin

Nach dem Mittagessen in einem hübschen usbekischen Lokal geht es weiter zum Winterpalast, in dem die Eremitage untergebracht ist. Die Eremitage stellt nach dem Louvre in Paris die zweitgrösste Kunstaustellung der Welt dar.

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Die Eremitage

Zum Vergleich: die Ausstellungsfläche des Bayrischen Nationalmuseums beträgt 13.000 Quadratmeter (die grösste in Deutschland, international Platz 43), die der Eremitage 67.000 und der Louvre mit 73.000 noch ein ¨Quäntchen¨ mehr. 1764 gegründet, ist sie sogar noch knappe 30 Jahre älter als der Louvre. Ursächlich für den Reichtum dieser Ausstellung ist der Sammlertrieb Katharinas. Würde es sich nicht um wertvolle Gegenstände handeln, wäre sie wohl der erste “adlige Messie der Geschichte”… Was für andere Damen Handtaschen oder Schuhe sind, waren für sie eben (ausserdem noch) Kunstgegenstände – und Männer

 

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Der Palastplatz vor der Eremitage

Nicht etwa, das wir nicht in die Eremitage reingewollt hätten, aber stundenlang mit Nico-Mann in der Schlange zu stehen und dann noch das arme schreiende Kind durch die vollen Gänge zu schleifen, ohne, dass er irgendwo hätte dran herumpopeln oder herumklettern könnte – nein, das wäre auch uns zu viel gewesen. Also müssen wir da mal rein, wenn Nico schon grösser ist. Die Wahnsinns-Sammlung und den Gebäudekomplex von innen wollen wir auf jeden Fall mal sehen.
Das Äussere und der Platz vor dem Winterpalast ist nicht weniger imposant: 5,4 Hektar gross und damit mehr als doppelt so gross wie der Rote Platz in Moskau! Umrahmt wird die grosse Fläche von Teilen des Eremitage-Komplexes. Gegenüber, halbrund, eine ebenso beeindruckende Fassade im Stil des Empires, in der sich ein doppelter Triumphbogen befindet. In der Mitte des Platzes befindet sich die 47,5 m hohe Alexandersäule aus rotem Granit.

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Alexandersäule

Sie soll die höchste ihrer Art weltweit sein und 500 Tonnen wiegen. Auf diesem Platz ereigneten sich in der Vergangenheit historische Ereignisse wie der Petersburger Blutsonntag 1905, als Arbeiter gegen unmenschliche Arbeitsbedingungen demonstrierten, oder auch die Oktoberrevolution von 1917, als die Bolschewiki die Macht übernahmen.
Neben der Säule steht ein junger Mann mit Gitarre, eine Schar Menschen um ihn herum lauschen den Klängen und den russischen Liedern. Nico hält es nicht länger im Kinderwagen, der kurze Schlaf ist vorbei. Schon rennt er los, quietscht vergnügt, das ganze Gesichtchen sieht aus wie das einer Grinsekatze. Abwechselnd bewachen wir Kinderwagen und rennen Nico hinterher. Tanzend läuft er im Kreis. Nach etwa 45 min setzt dann die Müdigkeit ein – bei uns wohlgemerkt, Nico könnte noch länger herumtoben…

 

Petergof*

Am nächsten Tag geht es aufs Wasser: Wir wollen mit dem Boot nach Peterhof fahren. (*Im Russischen gibt es kein “H”, daher wird es mit “G” ersetzt.)  Pünktlich legt das Boot ab und saust nur so über das Wasser.

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Peterhof

Nach etwa 40 min haben wir unser Ziel erreicht. Hier, etwa 30 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, befindet sich einer der bedeutesten Schloss- und Parkanlagen, die gerne als ¨Russisches Versaille¨ bezeichnet wird. Zunächst nur als Landhaus und eine Art Rastplatz auf dem Weg zur Festung Kronstadt geplant, baute der Zar Peter der I. hier eine Residenz. Diese wurde in den folgenden Jahrzehnten noch weiter ausgebaut.

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Ausmaß der Zerstörung und Wiederaufbau

Genauso wie im restlichen St. Petersburg gestalteten auch hier internationale Baumeister und Gartenbaumeister Park und Gebäudekomplexe. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Areal von der Wehrmacht besetzt und die wertvollen Gegenstände geplündert. Die Gebäude selber nahmen im Zuge der Kämpfe schweren Schaden, doch schon direkt nach Kriegsende begannen bereits die Wiederaufbaumassnahmen.

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Die “Große Kaskade”

Heutzutage kann sich der Besucher wieder an diesem wunderschönen Ort erfreuen: Grandiose Architektur, viel Gold und herrliche Parkanlagen, in denen zahlreiche Springbrunnen den Besucher erfrischen. Diese kommen übrigens seit jeher ohne Pumpen aus (also die Springbrunnen), da Druck und Wasser aus höheren Lagen genutzt wird.

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Unbeschreiblich…

 

Nico rennnt durch die Gegend, wir geniessen ein herrliches Wetter. Nach meheren Stunden machen wir uns wieder auf den Weg zum Steg, um das Boot zurück in die Stadt zu nehmen. Anschliessend bummeln wir auf dem Weg zu einem Lokal für das Abendessen noch durch die Stadt. Heute ist das WM-Spiel Schweden gegen Schweiz. Plötzlich stehen wir inmitten jubelnder und gröhlender Fussballfans beider Mannschaften, die sich in den Armen liegen und amusiert die Strassen bevölkern. Eine interessante Athmosphäre.

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Tritonfontäne

 

Es geht den Nevskij-Prospekt rauf und runter, entlang zahlreicher Nobelboutiken und auch kleinerer Shops. Der Verkehr stockt, Luxuskarossen schieben sich langsam vorwärts. Diese Prachtstrasse, benannt nach Alexander Nevsky, strotzt vor imposanten Bauten.

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Am Nevskij-Prospekt, links das Singerhaus

Unter anderm finden sich hier eine historische Shopping Mall aus dem 18.Jh. (Gostiny Dvor), Statuten, das Singer-Haus, der von Rastrelli erbaute Stroganov Palast, ein halbes Dutzend Kirchen aus dem 17. Jh und vieles andere mehr. Es soll an die Champs-Elisee erinnernt, was es auch tut. Auch Prominente der damaligen Zeit verweilten gerne hier, so z.B. Alexander Puschkin, aber auch Dostoyevski, der einen Teil seiner Werke hier spielen liess.
Irgendwann sind wir durch. Wir sind fertig. Also geht es langsam Richtung Hotel.

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Nicht umsonst als “Venedig des Nordens” bezeichnet

 

Immer munter rauf und runter

Am nächsten Tag hat es sich das Wetter anders überlegt. Es regnet. Und wir müssen auschecken. Heute Abend soll es mit dem Zug vom Ladoshkij Woksal am anderen Ende der Stadt Richtung Osten, nach Kirov gehen. Zuvor wollen wir uns aber noch mit Julia, einer alten Freundin von Olga treffen. Sie hat inzwischen drei Kinder und wohnt mit dem Mann in der 5 Millionen-Metropole.

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Prachtvolle Gebäude soweit das Auge reicht

Wir nehmen ein Taxi bis zum Bahnof. Wir wollen zunächst am Vormittag das sperrige Gepäck dort verstauen und uns dann mit Julia treffen. Ohne Koffer geht es zur Metro. Eigentlich graut mir bereits davor, da mir die Moskauer Metro noch sehr gut in Erinnerung geblieben ist: lange Rolltreppen, die in die Tiefe führen, wahnsinnig viele Menschen, Gedränge und Gerempel bei Ein- und Ausstieg, aber auch eine unschlagbare Effektivität und Geschwindigkeit. Den Koffer haben wir abgegeben, jetzt bleibt uns noch der Kinderwagen und Rucksäcke. Wir rollen auf die erste Treppe zu, die uns in die Tiefe führt. Menschen strömen an uns vorbei.

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Härtetest für Mensch und Material

Zusammen tragen wir Nico im Kinderwagen nach unten. Er findet das alles sehr amüsant, bestaunt aus seiner ¨Sänfte¨ die Vorgänge und unsere Schufterei, zuweilen gibt er noch unverständliche Anweisungen. Aha, na super… An der nächsten Treppe gibt es zwei Eisenstangen, die eine Art Rampe für Kinderwagen darstellt. Leider ist unser etwas zu schmal, so dass die Räderchen mal etwas verbogen sind, mal auf der Kante nach unten geschoben werden. Mein Bruder hat sich den Wagen bei Rückgabe glücklicherweise nicht so genau angeschaut (ach Quatsch, war nen Spass, Digger!).
Dann geht es weiter durch endlose Gänge bis wir zu den Rolltreppen gelangen. Um es mal vorweg zu nehmen: die Rolltreppen in Deutschland sind geschwindigkeitstechnisch ¨geriatrische Rolltreppen¨. Hier laufen sie wirklich schnell, sodass man beim Betreten sehr aufpassen muss.
Aber schnell müssen sie auch sein, ansonsten würde man nie ankommen: die U-Bahnschächte liegen in unvorstellbarer Tiefe. Mehere Minuten (!) rollt die Treppe steil (also wirklich steil!) in die Tiefe. Man kann zunächst nicht das Ende sehen. Um die Menschenmassen zu bewältigen laufen gleich mehere parallel, weiter drüben auf der anderen Seite gehts nach oben. Nico sitzt auf meinem Arm und jubelt.

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Kontrollposten

Er findet das alles toll und zupft mir vor Begeisterung an den Haaren, während ich mich mit der anderen Hand festhalte.
Es geht immer weiter nach unten, fast schon unheimlich. Aufgrund der ursprünglichen sumpfigen Gegend musste die Petersburger Metro sehr tief verlegt werden: durchschnittich liegt das Streckennetz 50-75 m unter der Erdoberfläche, die Tiefe der tiefstgelegendsten Station, der Admiraliteyskaya wird je nach Quelle mal mit 86 m, mal mit 102 m unter Null angegeben. “Da musste erst mal hinkommen” – deswegen also die Rolltreppen.

 

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Nico müde in der Metro – mit Papa-Mütze

Eigentlich ein idealer Schutz vor Bomben im Krieg, jedoch wurde die Metro hier im Gegensatz zu der in Moskau erst 1955 in Betrieb genommen. Gemeinsam haben beide Tunnelbahnen jedoch die reiche Ausschmückung der Bahnhöfe und die kilometerlangen Gänge, die Rolltreppen und die scheinbare Unpassierbarkeit für Rollstuhlfahrer und Kinderwagen. Zumindest in der Hauptverkehrszeit wird es zur Qual.
Wir haben es aber schliesslich doch geschafft, Julia und eines der drei Kinder zu treffen. Wir spazieren durch den strömenden Regen. Nico und die kleine Victoria beäugen sich zunächst vorsichtig, nehmen dann aber doch etwas Kontakt auf. Wir laufen zur Haseninsel am gegenüberliegendem Newa-Ufer. Hier liegt der historische Kern der Stadt: die Peter-und-Paul-Festung, eine sternförmige Anlage aus dem 18. Jahrhundert. Zunächst militärische Anlage im Krieg gegen die Schweden, so was sie später unter anderem Gefängnis und Hinrichtungsort des Zaren, wie auch der Kommunisten.  Hier wurden auch prominente Personen gefangen gehalten, so beispielsweise Dostojewski, Maxim Gorki und Lenins Bruder Alexander.

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Auf der Peter-und-Paul-Festung

Heutzutage befinden sich hier einige Museen. Trotz Regenwetters entladen grosse Reisebusse immer wieder Menschenmengen. Wir strömen gemeinsam in den Innenhof. Hier finden sich Tafeln, die an die Schlacht von Stalingrad erinnern, auf einer das Foto des kapitulierenden Generalfeldmarschalls Paulus. Der Zusammenhang ist mir momentan nicht ganz klar. Stalingrad, das heutige Wolgograd, ist fast 1700 km weit weg. Das einzige, was diese beiden Städte verbindet sind das blutige Schicksal während des Zweiten Weltkriegs und die ehemalige Namensgebung zu Sowjetzeiten: Aus Stalingrad wurde später Wolgograd und aus Leningrad wieder St. Petersburg.

“Süsse Erde”

Eigentlich hatte ich eher eine Dokumentation über die Zeit der Belagerung, die fast 900 Tage dauerte (Sept. 1941 – Jan. 1944), erwartet. Während die deutschen Truppen zunächst die Nordwestfront der Roten Armee zurückdrängen konnte, gerieten sie aber bald ins Stocken. Nach vollständiger Umzingelung auf den Uferseiten blieb lediglich einzig der Ladogasee als Versorgungsroute für die eingeschlossene Bevölkerung. Die deutschen Angriffe verlagerten sich auf Bombaredements und Artilleriebeschuss, wobei auch gezielt Lebensmittellager beschossen wurden.

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Paulus kapituliert in Stalingrad

Die Folge war eine Hungerkatastrophe ungeheuren Ausmasses. Auf dem Schwarzmarkt wurde Erde, in die geschmolzener Zucker gelaufen war, als ¨süsse Erde¨ zu horrenden Preisen verkauft. SS-Sicherheitsdienstchef Heydrich bekräftigte in einem Schreiben an Hitler höchstpersönlich die “Auslöschung¨ der Stadt als Ziel. Die Menschen begannen alles, was organisch war, zu essen: Leder wurde ausgekocht, Klebstoffe, Schmierfett und Tapetenkleister verzehrt, Ratten und Krähen gegessen. Bald kamen Fälle von Kannibalismus hinzu (Februar 1942 waren es über 1000 Fälle). Da die Menschen zu entkräftet waren, um die Toten zu den Friedhöfen zu transportieren, lebten sie mit den Leichnamen weiter in den Häusern. Täglich schwärmten Brigaden von meist jungen Frauen aus, um nach Waisenkindern in den Wohnungen zu suchen. Trotz der Zerstörung versuchten die Bewohner das Leben weiterzuführen. Kinder besuchten so gut wie möglich die Schule, Studenten die Universität und es wurden kulturelle Veranstaltungen organisiert.

Einzige Versorgungsmöglichkeit stellte die Route über den Ladogasee dar, der im Winter für Lastwagen befahrbar war. Natürlich war der Weg gefährlich Tausende starben bei der Flucht und die Versorgung reichte selbstverständlich nicht aus. Insgesamt kamen rund 1,1 Millionen Menschen (Zivilisten!) ums Leben. Wikipedia (engl.) gibt 642.000 Tote durch die Belagerung an, 400.000 bei Evakuierungsmassnahmen. An Truppen standen auf russischer Seite 900.000 Soldaten etwa 700.000 deutschen, finnischen und spanischen Soldaten gegenüber.

Волково кладбище

Tote werden begraben, 1. Oktober 1942 – Quelle: RIA Novosti archive, image #216 / Boris Kudoyarov / CC-BY-SA 3.0, RIAN archive 216 The Volkovo cemetery, CC BY-SA 3.0

Über die Opfer der Wehrmacht und der assoziierten Truppen aus anderen Ländern gibt die englische Seite knapp 580.000 Fälle an, die deutschsprachige Seite kennt hingegen keine Angaben. Sie gibt aber Informationen über die grobe Tötungsursache: 16.470 tote Zivilisten durch Beschuss oder Bomben, aber etwa 1 Million durch Hunger!

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Weiteres Kriegsgerät, Artilleriemuseum

Nicht nur anhand der Geschichte dieser Stadt im WWII kann man den Vernichtungskrieg etwas begreifen. Wohlgemerkt hat jeder Krieg etwas Vernichtendes, baut ja geradezu auf Vernichtung auf. Wer, wen, warum und wann sind die Kriterien, die uns bei der Bewertung beeinflussen. Gott sei Dank haben wir jüngere Generationen keine eigenen Erfahrungen machen müssen!

Das Wetter ist schlecht, wir laufen etwas herum und nachdem die Kleinen auch langsam nass sind, beschliessen wir das Treffen in einem Restaurant ausklingen zu lassen.
Julia begleitet uns anschliessend noch zum Bahnhof. Hier verabschieden wir uns von ihr und der kleinen Victoria und auch von dieser herrlich interessanten Stadt, die uns wirklich in ihren Bann gezogen hat.
Die ¨Weissen Nächte¨ haben wir leider ebensowenig erlebt, wie das Heraufziehen der Brücken, die es den Schiffen ermöglicht, in die Stadt zu gelangen und wieder aus ihr heraus. Aber mit einem kleinen Nico werden eh die Nächte mehr zum Tag gemacht, als man erwarten könnte – zumindest, wenn es sich nicht um das heimische Bettchen handelt.

Go East!

Nach einer “hochwichtigen” Fahrkartenkontrolle besteigen wir den Zug nach Kirov. Über 1200 km und etwas mehr als 21 Stunden sind es bis dorthin. Wir werden also etwas Zeit verbringen an Bord des Zuges. Mal sehen, wie es mit Nico wird. Glücklicherweise müssen wir nicht über Moskau fahren, sondern die Strecke ist eine der wenigen direkten Ost-West-Verbindungen.

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St.Petersburg – Jekaterinenburg


Es geht los ab dem Ladoshky Woksal (Ladoga Bahnhof im Osten). Schier endlos sucht sich der Zug seinen Weg durch die Aussenbezirke. Hässliche Industrieanlagen, dann fahren wir ein letztes Mal über die Newa und bald geht es nur noch durch endlose Landschaft.
Die Schaffnerin kommt herein, kontrolliert noch einmal die Fahrkarten und überreicht Nico ein kleines Rucksäckchen mit Malsachen, Puzzle usw. Ganz so wie im Flugzeug. Nico freut sich und fängt gleich an alles auseinander zu nehmen. Der Zug ist sehr bequem. Alles ist sauber, ruhig, aufgeräumt. Über der Tür ein Fernseher, die Fernbedienung liegt auf dem Tisch. Dann kommt auch schon das Abendessen. Wir können zwischen zwei Gerichten wählen. Das Essen ist übrigens im Preis inbegriffen und lecker. Nico stiefelt noch durch den Waggon und dann beginnt die kräfteraubende Zeremonie das kleine Drachenbaby schlafen zu legen. Es fällt ihm schwer. Er ist zwar hundemüde, aber so viele Eindrücke, die Menschen und dann auch noch der fahrende Zug, das ist schon nicht so leicht für so einen kleinen Mann. Irgendwann hat er es aber geschafft und Olga und ich können auch endlich mal entspannen.
Ich schlafe schlecht, Olga auch. Nur Nico pennt recht gut – bei Mama.

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Waffen während der WM verboten?

Deswegen hat Olga keinen Platz und eben auch keinen Schlaf. Nach dem Frühstück geht es den Waggon rauf und runter. Zusammen wird aus dem Fenster geguckt und die russische Weite bestaunt. Wir sind zwar noch in Westrussland und damit im eher dicht besiedelten Teil des grössten Landes der Erde, aber es fühlt sich leer an. Dann und wann mal ein Dorf, ein Gehöft, wenige Städte. Dann wieder lange nichts. Zum Mittagessen geht es in den Speisewagen. Hier ist nichts los, wir sind die einzigen Gäste. Vielleicht sind wir etwas früh, vielleicht sind es aber auch die Preise. Für uns ist es gut erschwinglich und sogleich kommt der Küchenchef und Kellner herbeigeeilt und hört gar nicht mehr auf zu reden. Er hat Gesprächsbedarf, anscheindend ist es immer so leer hier. Entweder weil er so viel redet, oder er redet weil es immer so leer ist.

Aber im Ernst: Er ist sehr nett, macht Scherze und serviert uns ein köstliches Essen. Eigentlich sei er Arzt, Infektiologe, aber von dem Geld konnte er nicht leben, deshalb arbeite er hier bei der Bahn. Seit 15 Jahren schon und es gefalle ihm gut, er bekomme gut Geld.
Dann am Nachmittag kommen wir in Kirov an. Der Zug selbst wird noch weiter nach Jekaterinenburg in Sibirien fahren. Auf dem Bahnsteig wartet Olgas Mama, Maxim und Nastja. Endlich angekommen. Nico gluckst vor Freude.

(K)ein Urlaub

Dass es kein Entspannungsurlaub werden würde, war uns vorher klar, aber dass es so anstrengend würde, das hatten wir uns auch nicht gedacht. Im Garten gibt es viel zu tun. Etwa 30 min von der Wohnung weg, liegt er 1-2 km abseits der Hauptstrasse.

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Typisch Russland: alles findet Verwendung

Wir wollen Olgas Mama helfen, den Garten zu ordnen, Unkraut zu jäten usw. Der zugewachsene Garten macht es meinem unbeholfenen Stadtauge schwer, die angebauten Pflanzen vom Unkraut zu unterscheiden. Erdbeeren erkenne ich jedoch noch.
Nachdem wir angefangen haben den Wildbewuchs zu “roden”, offenbart sicht und eine richtige ökologische Katastrophe: hier liegen Plastik neben Metallteilen, dann verrostete Fässer mit unbekanntem Inhalt, Teermatten oder Bitumen und alte Plastikflaschen mit Öl oder sonst irgendetwas. Teilweise sind diese Stoffe bereits fest mit dem Boden und den Pflanzen verbacken. All diese Abfälle und Schrott stammen noch vom Vorbesitzer. Alles wurde in die Landschaft und eben auch in die Gärten gekippt. Olgas Mama konnte das mit ihren 1,50 m nicht berwerkstelligen. Warum hat sie den Garten dann nicht verkauft? Oder eben ein anderes Grundstück? Der Blick in die Nachbargärten verrät: es sieht ürberall so aus. Zudem wird gesammelt, was man gerade hat.  Wieso? Nun, für die meisten Russen ist der Garten die “letzte Verteidigungslinie”. In den 90er Jahren hat Olga gelernt, was es heisst zu hungern, tagelang mit leerem Magen ins Bett zu gehen. Das ist für mich in unserer heutigen Zeit unvorstellbar! Viele Russen konnten diese Zeit nur überleben, weil die einen Garten hatten und alles anbauten, was ging. Und der ganze Unrat? Naja, was man hat, das hat man. Eine Logik der Mangelsituation, die wir gar nicht mehr kennen. Doch mal im Ernst: bei uns wird alles, was nicht mehr glänzt gleich weggeworfen. Ist das besser?

Wenn der Urlaub so schön ist, dass man auf die Heimreise wartet…

Wir arbeiten so gut wie wir können. Immer wieder werden wir von heftigen Schauern und Gewittern unterbrochen. Dann kommt wieder die Sonne raus und heizt die Luft auf 29 Grad auf. Dazu die unbeschreibliche Luftfeuchtigkeit. Es ist Wahnsinn! Eigentlich wie in Indien, nur dass wie hier sehr viel weiter nördlich sind, etwa auf der Höhe von Stockholm!
Als wir zurück zur Wohnung kommen, wartet schon Nico auf uns. Er hat gespielt, mit Oma und Uroma getanzt. Momentan ist er manchmal gereizt und widerspenstig. Es hat eine Trotzphase begonnen. Noch schlimmer ist das Schlafengehen, eine Tortur für alle.
Das “Maloche” geht so mehere Tage lang. Wir sind fertig. Körperlich wie emotional. Wir warten auf die Heimfahrt.
Immerhin haben wir trotzdem noch etwas Spass und Freude, wirklich! Wir unternehmen viel mit Olgas Mama und dem Rest der Familie. Olgas Oma kann den Urenkel endlich mal richtig in den Arm nehmen. Die beiden verstehen sich prächtig.

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Destillen: “Männliches Hobby” steht auf dem Schild


An einem Abend fahren wir zu Igor und Maxim. Die Mama von Max hat sich gerade den Arm gebrochen und wurde operiert. Igor stellt uns stolz seine neue Destille vor: ein Topf mit Druck und Temperaturanzeige, von seinem Kumpel Sascha mit einem Auspuff zusammengeschweisst, dazu Rohre, Chemieflaschen. Hier wird Schnaps gebrannt! Seit Kurzem ist das ganz legal in Russland. Es gibt sogar eigens spezialisierte Geschäfte.

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Z.T. selbstgebaut mit Auspuff

Igor ist inzwischen bekannt in dieser 400.00 Einwohnerstadt. Die Leute kennen seinen Schnaps, er ist beliebt – noch sei keiner erblindet, scherzt Olga. Es macht ihm sichtlich Spass  und stolz zeigt er den Saft, der sicherlich alle Mikroben vernichten könnte. Er hat nur das Druckgefäß (oder was es auch immer sein soll) gekauft, der Rest ist zusammengeschustert und mit dem Auspuff gibt es eine ganz besondere Note…

Noch ein paar Tage und es geht wieder heimwärts. Diese Besuche in Olgas alter Heimat sind kein Zuckerschlecken und das kennt sicherlich jeder, der Heimatbesuche machen muss, weil er woanders lebt. Aber es ist wichtig.

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Geschafft!

Zurück geht es über Moskau. Dieses Mal haben wir ein ganzes Abteil alleine und die Fahrt ist auch nicht so lang. Dieses Mal schläft Nico bei mir. Wieder kein Schlaf. Naja. Der Zug ist wieder sehr sauber, selbst die Toiletten laden zum Verweilen ein. Mindestens einmal geht während der Fahrt die Fahrkartendame mir dem Staubsauger durch den Wagon und reinigt die Toilette. Da kann die Deutsche Bahn noch einiges lernen…

Am Vormittag kommen wir in der russischen Hauptstadt an. Hier entschliessen wir uns wegen des Verkehrs, abermals die Metro zu nehmen. Die richtige Entscheidung. Auch mit dem grossen Koffer klappt es auf den Rolltreppen gut und Nico erfreut sich wieder an der ¨wilden Fahrt¨.

Recht schnell sind wir am Flughafen und ich komme aus dem Staunen nicht mehr raus: aufgerüstet haben sie hier für die WM. Nicht nur, dass man an Automaten T-Shirts, Kaviar und Kontaktlinsen kaufen kann, sondern auch eine “Boutique” der Firma “Kalashnikow” gibt es hier…ggg

Der Rückflug wird von Aeroflot durchgeführt. Der Flug ist ruhig, das Essen üppiger als bei der billigeren Tochter-Airline. Und schon sind wir wieder in Deutschland…

Insgesamt war es natürlich kein Urlaub im eigentlichen Sinne, aber ein wichtiger Besuch bei der Familie. Allerdings waren die Tage in St. Petersburg wirklich wunderbar. Jetzt werde ich mich erst einmal auf der Arbeit vom Urlaub erholen…

 

P.S.: Demnächst folgen  noch mehr Fotos!