Neues Jahr, neue Unterhose – Endlich!

31.12.2022 – In Zeiten der explodierenden Energiekosten ist das Sparen die richtige Strategie. Nachdem uns gesagt wurde, dass wir nicht mehr so viel duschen sollen, könnte man schlußfolgern, dass man auch weniger waschen sollte. Heizungen sollen weniger heizen und wahrscheinlich werden unsere Kinder demnächst das Seepferdchen beim Eisbaden machen. Ach was heißt Eisbaden: bei den Temperaturen wird wahrscheinlich das Seepferdchen heimisch in unseren Gewässern…

Aber mal Spass beiseite. Was war das wieder für ein Jahr? In wenigen Stunden ist es vorbei und viele Menschen sagen sich sicherlich „endlich!“, in der Hoffnung, dass das neue Jahr besser wird. Auch uns geht es ein Stück weit so. Sehr viel Unruhe und Sorgen liegen hinter uns und einige werden sicherlich ins nächste Jahr folgen.  Sorgen, die viele andere Menschen in Deutschland und anderswo mit uns teilen: der Krieg in der Ukraine, die Kriegsgefahr im Kosovo, die Energiekrise, die Inflation, die Klimakrise, die Ausläufer der Corona-Pandemie… ach ja und die anderen Krisen der Welt, die es gar nicht erst in die Nachrichten oder Gazetten geschafft haben, weil sie “eh weit weg” sind.

Könnte auch ein Statement zum Jahr 2022 sein: Werbeplakat der Berliner Stadtreinigung (BSR)

Ich gehe in eine Filiale einer großen Drogeriekette, mir fehlen noch ein paar Kleinigkeiten. Die Menschen sind aufgekratzt, aber nicht negativ gestimmt. Silvesterraketen und Böller gibt es hier zwar nicht, aber allerlei anderer Kram, mit dem man so einen Abend ausschmücken kann. Die Leute kaufen wie verrückt, als ob es keinen Morgen gäbe. Ich stehe an der Kasse, hinter mir legt eine junge Frau drei XXL-Kondompackungen auf das Fließband. Jeder knallt eben auf seine Art und Weise, denke ich …

“Nüchtern nicht zu ertragen!”

Wir werden gar nichts dergleichen machen. Wir brauchen Ruhe, wir agieren mehr oder weniger nur auf Sparflamme (wir sparen quasie auch mental Energie). Nachdem  Nico erst vollmundig verkündet hatte, bis Mitternacht durchzuhalten, dreht er sich um halb zehn abends auf dem Sofa rum und beginnt zu schnarchen. Nur mit etwas Mühe bekommen wir ihn kurz vor Mitternacht wach, um uns anschliessend einen Vortrag anzuhören, in dem er erklärt, warum das ganze Geböllere und die Raketen blöd sind: es ist zu laut („die armen Vögel“), die Umwelt wird belastet, Müll liegt rum usw. Recht hat er. Hatte ich mit sechs Jahren auch solche Gedanken? Wahrscheinlich eher nicht. Ob er das Ganze nächstes Jahr genauso sieht?

Im Fernsehen verfolgen wir den Countdown. Irgendwann merke ich, dass es eine aufgezeichnete Sendung ist. Billiger geht’s nicht. Oder? Doch, es geht noch billiger: auf einem anderen großen öffentlichen Sender ist die Live-Show vor dem Brandenburger Tor zu sehen: mit Johannes B. Kerner und „Kiwi“ – wie immer. Die Sprüche abgedroschen, das Musikprogramm schmalbrüstig – finde ich jedenfalls. Und das Beste: im Anschluß werden die Highlights aus der Silvesternacht 2021 gezeigt! Bitte was? Also noch billiger geht’s nun wirklich nicht! Eine Berliner Zeitung titelt später: „Nüchtern nicht zu ertragen!“ Recht hat sie.

Wir unterwerfen Britannien!

Wir sitzen in einem Schnellrestaurant im Taunus. Nico hockt in der „Russenhocke“ auf seinem Stuhl und hat mit der Faust auf den Tisch gehauen. Er grinst breit über das Gesicht und freut sich über unsere Verdutztheit – und die der anderen Gäste. „Wir unterwerfen Britannien!“ hat er dabei gerufen, um ebenso entzückt mit einem „Römer! Man bringe mir eine Servicia!“ und “Diener!” hinterher zu schieben. Oh Mann, und ich dachte Asterix und Obelix sind harmlose Comics…. (Servicia ist irgendso ein römisches Gesöff)

“Wir unterwerfen Britannien!” – Darstellung eine Kriegers aus Playmobil

Diese Szene trug sich im Sommer zu, allerdings nicht im Urlaub. Bis Juli hatte ich in einer psychiatrischen Klinik gearbeitet (super-interessant!!!). Eine spannende Zeit. Aus verschiedenen Gründen hatte ich mich entschlossen, eine Weiterbildung in der Arbeitsmedizin zu beginnen (Arbeitszeiten als ein Argument von vielen). Zuvor wollte ich aber noch etwas „Knete“ verdienen. Daher hatte ich mich bei verschiendenen Online-Plattformen angemeldet, die Ärzte an Krankenhäusern vermitteln. Ein sehr lukratives Geschäft für Ärzte und Vermittler, das die Kliniken und Praxen teuer bezahlen müssen. Horrende Summen werden pro Stunde geboten. Es ist die Konsequenz der falschen Gesundheitspolitik und der Interaktion zwischen Politik, Krankenkassen, Ärztevertreter und Kliniken, die in der allseits bekannten Personalknappheit münden. Am falschen Ende gespart heißt wie immer draufzahlen. Warum soll ich davon nicht auch mal profitieren?

Klar, mit Familie kann man das nur einen begrenzten Zeitraum machen, da man eigentlich  nur am Wochenende zu Hause ist. Wir aber waren bereit, dieses Opfer versuchsweise zu erbringen.

Mein erster Einsatz führt mich nach Mittelhessen, nicht weit weg von Wetzlar. Dank gesperrter Autobahnbrücke und Baustellen verlängert sich meine Anreise und die an den Wochenende zu erduldende Pendelei, aber man erbringt ja gerne Opfer. Ich habe ja schon für weniger Geld die Schenkel gespreiztnur mental, versteht sich!

Ich hätte auch gerne die Bahn genommen und vor mich hingedöst oder gelesen, anstatt jetzt hier die kurvenreichen Strassen im Taunus zu erkunden, aber die Anbindung war einfach zu schlecht bzw. nicht vorhanden. Dafür lassen sich immer wieder schöne Ecken entdecken, bei dem Wetter ganz entzückend. Zwei Monate bin ich in der großen Praxis angestellt und lerne die Mentalität der Menschen in „Hesse“ kennen. 

An scheinbar jeder Ecke scheint es eine Burg zu geben, wie hier in Runkel

Insgesamt hat es mir hier sehr viel Spaß gemacht, wenn auch das Management wieder einmal enttäuschend ist: zunächst werden mir Verträge zu anderen Konditionen unter die Nase gehalten, die mir deutlich weniger Geld zugestanden hätten. Ich bleibe jedoch hart und unterbreite mein „Gegenangebot“: entweder ich bekomme das Geld zu den Konditionen, die ursprünglich verabredet waren, oder ich trete am gleichen Nachmittag noch die Heimreise an. Schliesslich geht alles sehr schnell und ich bekomme das, was mir zusteht. Geht doch…

Malerisch: die Lahn bei Wetzlar

Ich bin in wechselnden Ferienwohnungen untergebracht, die allesamt sehr gut sind. Die Familie besucht mich am Wochenende, oder ich fahre nach Hause. Wenn die beiden bei mir sind, erkunden wir die Gegend. So fahren wir mal nach Frankfurt, ein anderes Mal erkunden wir ein altes Bergwerk: Nahe Wetzlar befindet sich die sehenswerte Grube Fortuna, in der einst vor allem Eisenerz abgebaut wurde. Nach einer Fahrt mit dem “Fahrstuhl” geht es 150 m tief unter die Erde.

Hier wartet eine kleine Grubenbahn, auf die man sich wie auf einen Sattel setzt und sich wie an einem Lenker festhält. Der Kopf ist mit einem Helm geschützt, aber trotzdem muss man den Kopf einziehen, will man sich keine Beule holen.

Grube Fortuna bei Wetzlar

Die wilde Fahrt geht fast 500 m durch die Dunkelheit, dann ist man da. Ein junger Mann, der sich neben dem Studium etwas hinzuverdient führt sachkundig durch die naßkalten Gänge. In den Nieschen liegen dekorativ noch Spaten, Hämmer, Presslufthämmer, manche Leiter führt einen dunklen Schacht hinauf. Man kann sich leicht vorstelllen, wie schwer die Arbeit damals gewesen sein muss und auch später noch, bis die Grube 1983 vollends geschlossen wurde. Ich will gar nicht an die berufsbedingten Erkrankungen denken, die durch die Arbeitsbedingungen verursacht wurden…

Es kommt der letzte Tag, ein Abend in einem Restaurant folgt und ich trete den Heimweg an. Im Gepäck habe ich neue Kontakte, Menschen, die mir ans Herz gewachsen sind und viele schöne Momente.

Weitere EIndrücke aus Hessen:

Akademische „Wanderhure“

Nach zehn Tagen Pause ruft das Meer: es geht nach Borkum in eine Rehaklinik. Das klingt spannend. In den letzten Jahren war Bahrain die einzige Insel, die ich besucht habe. Jetzt wird es Zeit für zwei Monate an der Nordsee. Mit dem Hochsee-Reizklima erhoffe ich mir etwas Erleichterung für meine Bronchien und mein Asthma. Immerhin wirbt die Insel mit den Kur- und Rehaeinrichtungen für leidgeplagte Patienten, vor allem Atemwegs- und Hauterkrankungen.

Überfahrt nach Borkum

Wieder versuche ich die Anreise mit dem Zug. Am Morgen der Abreise zeigt mir die Bahn-App jedoch den Ausfall des Zuges an. Der nächste geht erst viel später und ich muss ja immerhin an den Anschluß mit der Fähre denken. Also machen Olga und Nico einen “Ausflug” und fahren mich nach Emden. Nach einem kleinen Spaziergang durch die Stadt geht es bei sonnigem Wetter zum Hafen. Bei der Ausfahrt aus dem langgestreckten Hafen passieren wir ein Abfertigungsareal, auf dem olivgrüne Fahrzeuge stehen. Die Fähre passiert in ausreichender Nähe, sodaß man mit Leichtigkeit sehen kann, dass dort vor allem Schützenpanzer aufgereiht sind, fertig zur Verladung. Wohin die wohl gehen? In die Ukraine?

Schweres Gerät

Ich merke mir den Namen des Schiffes und schaue auf einer Internetseite nach, auf der es ähnlich wie bei Flügen die Möglichkeit gibt, Informationen über die Schiffe zu erhalten. Hier läßt sich sehen, dass der Frachter Kurs auf Südamerika nehmen wird.

Der Wind, der mir schon am Hafen um die Nase wehte wird für die nächsten Wochen mein Begleiter sein. Jeden Schritt, den ich ausserhalb des Gebäudes tun werde, wird er mich verfolgen bzw. entgegenwehen.

Noch bevor wir die Insel erreichen, kann man schon aus weiter Entfernung einen Kasten sehen, der am Horizont wie ein Fremdkörper trohnt. Sind das die Aussenbezirke von Berlin mit Plattenbauten? Der scherzhafte Gedanke entpuppt sich als echter Plattenbau: ein Hotel, das den Charme von Berlin-Marzahn oder Gropiusstadt in Berlin-Neukölln hat. Grau und häßlich empfängt er den Besucher schon von Weitem. Auch für Menschen ohne jegliches Gefühl für Ästhetik würden bei dem Anblick erschrecken.

Blick auf das weite Meer

Im Hafen, direkt neben der Anlegestelle steht die Inselbahn. Die Diesel-Schmalspurbahn bringt mich und die anderen Gäste in das Orts- und Inselzentrum. Es erinnert mich an eine Modelleisenbahn-Szenerie, die hier groß geworden ist. Alles sieht etwas niedlich und künstlich aus, hat aber auch seinen Charme.

Erst mal Mattjes in einer Strandbude

Die Klinik ist eine von vielen. Besser gesagt: eine von sehr vielen, die hier direkt an der Uferpromenade stehen. 100m weiter ist der Strand, das Meer ist gerade wegen der Ebbe gerade weiter weg. Nach überstandenem Corona-Schnelltest bekomme ich eine Schlüssel für ein Zimmer in der Klinik. Leider ist es nur leidlich sauber, aber schon nach wenigen Tagen kann ich in ein Haus nebenan einziehen. Die anfängliche Freude über eine eigene Ferienwohnung weicht schnell dem Schrecken: Auf dem Fußboden im Teppich finde ich eine Schraube, der Wasserkocher in der Küche fällt mir auseinander, im Bad finde ich die benutzten Handtücher der Vorbewohnerin samt Resten von Make-up, eine Kontaktlinse lächelt mich im Waschbecken an, in Wohn- und Schlafzimmer dicke Staubschichten auf den Schränken, nebst einem zerbrochenen Spiegel… wunderbar! Das hätte ich mir wirklich nicht träumen lassen….

Abendspaziergang

Die Kollegen kennen das schon und ertragen es mehr oder weniger. Auch in der Klinik ist es schmutzig, Patienten klagen über nicht gereinigte Zimmer und Schimmelbefall. Also genau das Gegenteil dessen, was ein an Atemwegserkrankungen und Hauterkrankungen leidender Patient so alles braucht. Das Management interessiert sich nicht dafür, eine Email meinerseits wird nur schnippisch kommentiert, aber mir soll das egal sein. Ich kann ja wieder verschwinden.

Atemberaubende Landschaften

Vom positiven Effekt des so angepriesenen Klimas habe ich in den ersten Wochen keine Freude: ich habe erst einmal mit einer Verschlechterung meines Asthmas zu kämpfen und inhaliere und mediziniere mich selber. Nach drei Wochen bessert sich die Symptomatik und ich kann endlich erleichtert an die Arbeit gehen.

Viele Patienten berichten über eine vorübergehende Verschlechterung der Symptome und tatsächlich bedeutet der Aufenthalt in diesem Reizklima nicht „Urlaub von den Symptomen“, sondern zielt u.a. auf eine Aktivierung und Harmonisierung des Immunsystems ab, von der die Patienten auch nach dem Aufenthalt für mehrere Monate profitieren.

Fast so schön wie in der Wüste… 😉

Auch hier lerne ich wieder den ein oder anderen interessanten Menschen kennen, aber insgesamt gestaltet sich der Aufenthalt eher schwierig. Der Mitarbeitermangel ist so eklatant, dass Überstunden geschoben werden müssen.

Weitere Bilder von Borkum:

Geordneter Rückzug

Auch zu Hause spitzt sich die Situation zu: nachdem Nico eingeschult wurde verliefen die ersten Wochen eigentlich ganz normal. Nach und nach zeigte jedoch ein Mitschüler aggressive Verhaltensauffälligkeiten. Das Ganze gipfelte dann darin, dass der Junge u.a. Nico nicht nur trat, sondern auch würgte, sodaß Nico Sternchen sah. Bewußtlos war er zwar nicht, aber in der ersten Klasse (!) wiegen diese Verhaltensweise besonders schwer.

Nico hatte Angst vor dem Jungen, andere Kinder weinten den ganzen Abend und wollten gar nicht mehr in die Schule gehen und nachts wieder einnässten.

Ich entschied mich daher, meine Tätigkeit auf der Insel vorzeitig zu beenden und nach Hause zurückzukehren. Geld ist eben nicht alles. Eine gute Entscheidung. So konnte ich mich um Nico kümmern und die Gespräche mit der Direktorin und den anderen Eltern mittragen. Inzwischen ist der auffällige Junge in einer anderen Klasse, Jugendamt und andere assistierende Stellen sind ebenfalls involviert. Ich kann nur hoffen, dass dem Jungen die nötige Unterstützung zukommt, die er braucht…

Man wird nicht älter, nur „weniger jung“

In der Zwischenzeit hatte ich mich natürlich auch um einen neuen Job gekümmert, sodaß ich Mitte November eine Stelle in der Arbeitsmedizin antreten konnte (dem Ärztemangel sei Dank!).

Fünf (5!) Arbeitgeber habe ich dieses Jahr „ganz klassisch befriedigen“ dürfen, auch wenn das mehr oder weniger geplant war. Inzwischen (Januar 2023) bin ich fast 2 Monate dabei und ich habe erst einmal nicht die Absicht, wieder die Stelle zu wechseln. Es ist Zeit, sich in etwas ruhigeres Fahrwasser zu begeben mit geregelten Arbeitszeiten und die Möglichkeit, Nico bei den Hausaufgaben zu unterstützen, zusammen Zeit zu verbringen, oder auch vielleicht so etwas wie Hobbys zu haben…?

In ein paar Jahren würde ich dann aber doch gerne wieder einen Tapetenwechsel haben wollen… vielleicht. Immerhin werde ich ja „weniger jung“ , wie ich immer sage…

Auch ein Statement für das vergangene Jahr?

“Und es fängt schon wieder an…”

Das, was hier so nach dem Lied von Andrea Berg klingt (nicht meine Musik übrigens), ist in Wirklichkeit auf die neue Corona-Welle bezogen.

Eigentlich wollte ich ja unsere Sommerreise nach “Frongreisch” (Frankreich) beschreiben, aber die kommt demnächst. Jetzt brennt mir etwas anderes auf der Seele.

Es geht wirkich schon wieder los! Nicht nur die Zahlen gehen in die Höhe, sondern auch die Menschen drehen schon wieder vermehrt am Rad. Der Egoismus entfaltet sich.

Neuestes Beispiel: die Grippeimpfungen. Nachdem wir sie jahrelang wie sauer Bier angepriesen und die Menschen bekniet haben, sich impfen zu lassen, rennen sie uns jetzt die Bude ein. Los ging es zunächst langsam 2017/2018 , als die schwere Grippewelle mit ca. 20.000 Toten über das Land gefegt war.

Und jetzt wurde weltmeisterlich für die Impfungen geworben – aber nicht weltmeisterlich produziert. Es gibt wieder zu wenige Impfungen, obwohl unser Gesundheitsminister sich selber medienwirksam impfen ließ. Generell eine gute Idee, vor allem wenn man neben Corona nicht auch noch eine Infektion mit dem Influenza-Virus bekommen möchte, vor allem, wenn man Vorerkrankungen hat (Bluthochdruck, Diabetes, Krebserkrankungen usw.).

Also belagern die Menschen die Praxis (bestimmt nicht nur unsere) und wollen geimpft werden. Da es nicht genügend Impfdosen gibt, können erst einmal nur diejenigen geimpft werden, die es wirklich nötig haben: schwerkranke Menschen. Das scheinen aber Viele nicht zu verstehen und fordern lautstark Erklärungen, warum sie jetzt nicht zu den “glücklichen Empfängern” gehören. Der Umgangston wird rauher.

Business

Einige sagen beleidigt “Dann bezahle ich es eben privat! Geben Sie mir ein Privatrezept!” Nein, auch das ist falsch! Es geht nicht um die Kröten, sondern, dass Diejenigen die Impfung bekommen, die am gefährdesten sind!

Die nächste Stufe: Der Patient rennt zum Apotheker, der noch Einzelimpfungen vorrätig hat (manchmal). Diese sind aber viel teurer als die Großpackungen und der Apotheker kann daran mitverdienen. Für die lohnt es sich wohl schon, wenn sie die auf Privatrezept verkaufen. Also ruft der Apotheker an und sagt “Ich brauch ein Privatrezept für Hernn/Frau Müller“… Wie unverschämt ist das? Auch das machen wir natürlich nicht mit!

Ein älterer Patient, der noch eine Impfdosis abbekommen hatte, kam in die Praxis, um sich die Spritze geben zu lassen. Er machte den Arm frei und die Arzthelferin gab ihm die Spritze. Anschliessend monierte er “Na, haben sie mir die jetzt auch wirklich gegeben, oder haben sie mir Kochsalz gespritzt?” Was ist mit den Menschen los???

“Haben die nen Nagel im Kopp?”

So drückt eine Arzthelferin ihr Erstaunen aus, und mal ehrlich: Recht hat sie!

Pro Tag machen wir zwischen 15 und 20 Corona-Tests. Immer schön im Kosmonauten-Anzug. Am Dienstag stellte sich mit Halsschmerzen und Husten vor, weigerte sich aber, den Corona-Test zu machen. Das sei alles nur, um uns zu kontrollieren und sie glaube daran nicht und überhaupt….

Der Wahnsinn zieht aber viel weitere Kreise, die ich so gar nicht widergeben könnte. Daher zitiere ich hier einen Brief einer anonymen Arzthelferin, die den aktuellen Alltag porträtiert:

“Sehr geehrte Damen und Herren,ich wende mich verzweifelt an Sie weil wir, Medizinische Fachangestellten, am Ende unserer Kräfte sind. Wir sind uns natürlich darüber im klaren, daß wir aufgrund der Corona Pandemie unseren Praxisablauf umstrukturieren und neu organisieren müssen, dennoch ist der Praxisalltag für die meisten MFA’s einfach nicht zu schaffen, es gibt etliche Kolleginnen, die kurz vor einem Burn-Out stehen und/oder sich beruflich umorientieren, weil der Beruf nichts mehr mit dem zu tun hat, welchen man erlernt hat.Dass Corona sich auf den Gemütszustand mancher Menschen auswirkt, ist bekannt, aber dass so viele MFA’s den Unmut täglich abbekommen, darüber spricht niemand.Es wird fast täglich in den Medien darüber berichtet, dass es nicht genug Pflegepersonal in den Krankenhäusern gibt, dass die Gesundheitsämter überfordert sind mit der Kontaktnachverfolgung, dass Ordnungsämter mit den Kontrollen neuer Regelungen nicht nachkommen uswWas ist mit den Arztpraxen? Man könnte meinen, sie existieren überhaupt nicht! Das war im März/April auch schon der Fall und das, obwohl WIR die ERSTE Anlaufstelle für Patienten sind!WIR sind tagtäglich (und das vom 1. Tag an) immer direkt an “der Front” und es ist mehr als ein Schlag ins Gesicht für uns, dass man uns einfach vergisst.Es gibt aktuell mehrere Problematiken, mit denen wir zur Zeit zu kämpfen haben:

1. Grippe- Impfungen:Wir haben unseren Bestand fast aufgebraucht. Wir hatten extra mehr Impfdosen vorbestellt als die Jahre zuvor. Haben eine Teillieferung erhalten und der Rest steht noch aus. Wann und ob wir die Lieferungen erhalten kann uns niemand klar beantworten, aber in den Medien wird groß verbreitet es seien genügend Impfdosen vorhanden. Erklären Sie jetzt mal den Patienten, wo der Fehler liegt, denn schließlich wurde Ende August groß in den Medien berichtet, dass dieses Jahr genügend Impfdosen zur Verfügung stehen und es zu keinem Engpass kommen wird. Es stand in den Zeitungen, dass es genug gibt, und natürlich stimmt immer das, was in den Medien verbreitet wird.Das gleiche gilt für Pneumokokken- Impfungen. Das Gesundheitsministerium ruft groß dazu auf, sich auch gegen Lungenentzündung impfen zu lassen, aber der Impfstoff ist seit WOCHEN NICHT LIEFERBAR!!Dass dieses allein tagtägliche Diskussionen nach sich zieht, können Sie sich bestimmt vorstellen, aber das ist noch nicht alles.

2. Abrechnung der Abstriche (vorgegeben durch die Kassenärztliche Vereinigung)Es ist eine absolute Katastrophe!!Es wird unterschieden: Abstriche für Patienten mit Erkältungssymptomen ohne persönlichen Kontakt zu nachgewiesen COVID-19 Fall; Abstriche für Patienten mit Kontakt zu COVID-19 Fall, Asymptomatisch; Abstriche für Patienten mit Symptomen und Kontakt zu COVID-19 Fall; Abstriche für Reiserückkehrer aus dem Ausland aus einem Risikogebiet; Abstriche für Patienten mit einer Warnung durch die Corona warn App; Abstriche für Lehrer/KITA Beschäftigte; Abstriche für Personal aus Krankenhäusern/Arztpraxen/PflegeheimenAll diese Anspruchsberechtigten haben ein UNTERSCHIEDLICHES Abrechnungsverfahren (anderer Laborschein, andere Abrechnungsziffern, andere Diagnosen- Kodierung usw) welche sich, und es ist absolut nicht mehr tragbar, seit Juli regelmäßig ÄNDERN!!! Alle paar Wochen bekommen wir ein Fax von der KV, mit NEUEN Abrechnungsleitlinien, die ab SOFORT gelten. Es bleibt in diesem hektischen Praxisalltag und in der Akutversorgung nicht genügend Zeit, sich mit diesen Administrativen sich ausreichend in Ruhe zu beschäftigen, geschweige denn direkt so umzusetzen. Das hat zur Folge, daß nachgearbeitet werden muss, um die Patienten die zu den diversen Abstrichen da waren richtig abzurechnen, also Überstunden. Was das für eine nervenaufreibende Arbeit ist, kann ich gar nicht in Worte fassen.Die Durchführung der Abstriche in Abstrichzentren, wie es zu Beginn der Pandemie organisiert war, wäre eine Erleichterung, aber da die KV der Meinung ist, die niedergelassenen Ärzte schaffen das schon, bekommen viele Testzentren keine Genehmigung.

3. Jeden Tag gibt es bei uns vor der Praxis Auseinandersetzungen zwischen den Patienten, welche wir MFA’s schlichten müssen. Da wir räumlich eingeschränkt sind, was die Anzahl der Patienten betrifft, die sich in der Praxis aufhalten dürfen, müssen die Patienten leider teilweise draußen warten, um sich anzumelden, bis sie zur Behandlung dran sind usw. Das sorgt ebenfalls für Unmut bei den Patienten, denn es ist ja jetzt schließlich kalt und manchmal regnet es auch. Können Sie sich vorstellen, wer diesen Unmut jeden Tag zu spüren bekommt? WIR MFA’s!!Wir haben eine Infektsprechstunde eingerichtet, für Patienten welche Erkältungssymptome haben. Diese sollen sich vorher telefonisch in unserer Praxis melden, um einen Termin dafür zu vereinbaren. Wenn der Termin eingetragen wurde, muss direkt alles für den Abstrich vorbereitet werden. Das kostet Zeit. Zeit, die man in der Anmeldung nicht hat. Somit müssen die Patienten warten, die gerade da sind, um sich anzumelden und auch das Telefon kann in der Zeit nicht bedient werden. Dies hat zur Folge, dass die Telefonanlage permanent durchgehend besetzt ist. Patienten beschweren sich am laufenden Band, dass sie uns nicht erreichen können. Sie kommen sogar teilweise mit ihren Erkältungsbeschwerden in unsere Praxis, obwohl sie wissen, daß es nicht erlaubt ist, und sie sich telefonisch anmelden müssen, aber telefonisch kommen sie nicht durch, weil keine Kollegin immer Zeit hat um direkt die eingehenden Telefonate entgegen zu nehmen. Es ist ein nicht enden wollender Kreislauf.

Es ist nicht auszuhalten, denn es gibt keine Sicht auf Besserung der Situation, der Winter kommt erst noch und es kann einfach so nicht weiter gehen. Ganz davon abgesehen, daß wir am Telefon von den Patienten teilweise beschimpft und/oder beleidigt werden, sind wir jeden Tag einem großen Infektionsrisiko ausgesetzt, da nicht genügend Schutzkleidung zur Verfügung steht (auch da werden Seitens der Regierung öffentlich andere Aussagen getätigt).Nach der neuen Testverordnung dürfen wir MFA’s uns auch 1x wöchentlich präventiv auf das Corona Virus testen lassen. Ganz aktuell haben wir dazu heute am 22.10.2020 ein Schreiben von unserem Labor erhalten, dass die KV lediglich für uns MFA’s die Kosten für Anti-Gen Tests übernimmt, jedoch nicht die Kosten für die üblichen PCR Testungen, welche die KV für ALLE ANDEREN ANSPRUCHSBERECHTIGTEN ÜBERNIMMT!! Bedeutet im Endeffekt: alle dürfen einen üblichen Rachen-Nasen Abstrich bekommen und die Kosten dafür trägt die KV, nur für uns MFA’s nicht!! Es ist unfassbar! Sind wir weniger wert als Pflegekräfte und Krankenschwestern, oder Reiserückkehrende?

Ach ja, nebenbei läuft der reguläre Praxisalltag ja auch noch. Dass Deutschland, im Vergleich zu jeglichen anderen EU Ländern momentan noch nicht so einen eskalierenden Verlauf hat, ist zum Großteil den Hausarztpraxen zu verdanken, denn WIR sind die erste Anlaufstelle. Dies äußerte auch der Vorstand der KBV, Dr. Gassen. Die mangelnde Wertschätzung unserer täglichen Arbeit ist sehr enttäuschend. Es gibt noch viele diverse weitere Punkte, aber mein Anliegen ist es gerade, es irgendwie zu schaffen, dass auch die Öffentlichkeit erfährt, wie es wirklich in den Arztpraxen zugeht und es nur eine Frage der Zeit ist, bis eine nach der anderen zusammen bricht und nicht mehr kann.Wir wissen uns einfach nicht mehr anders zu helfen und hoffen auf einen kleinen Erfolg für uns.Mit freundlichen Grüßen,Eine MFA”

Ich kann mich dem Brief vollkommen anschliessend. Wir haben zwar momentan (!) genügend Schutzausrüsung (wie lange noch?), aber Streit schlichten zwischen Patienten, die im Hausflur rumlungern (obwohl nur 2 Patienten dort gleichzeitig sein dürfen) und den Hausbewohnern, müssen die Arzthelferinnen (MFA) ständig. Wir haben uns inzwischen “Notklingeln” für die Sprechzimmer besorgt, um bei Bedrohung auf uns aufmerksam zu machen…

Wir werden in den nächsten Monaten wahrscheinlich zunehmend weniger Medizin machen und dafür hauptsächlich Seuchenbekämpfung und Katastrophenbewältigung – und Papierkrieg. Die Gesundheitsämter kommen nicht mehr hinterher und die Hausarztpraxen werden überschwemmt. Das bindet Kräfte (s.Brief). Ich habe Sorge, meine Patienten mit anderen wichtigen Erkrankungen nicht mehr richtig versorgen zu können…

Aktuelle COVID-19 Zahlen des Robert-Koch-Instituts (tägl. aktualisiert): RKI-Dashboard

Quelle anonymer Brief der MFA: Hausarztpraxis Dr. med. Bahar u. Björn Hollensteiner

Enddarm-Stimmung

Eigentlich sollte die Überschrift “Endzeit-Stimmung” lauten, aber da haben sich wohl meine filigranen Fingerchen etwas verhaspelt… 😉

Seit meinem letzten Beitrag haben sich die Ereignisse überschlagen. Während vor Kurzem noch meine anstehenden Zahnarzttermine meinen Puls höher schlagen ließen, so ist es jetzt die allseits gegenwärtige Corona-Krise. Corona hier, Corona da. Bei so viel Corona könnten werdende Eltern ihre Tochter glatt auch “Corona” nennen.

Nein, ich mache mich nicht lustig, es ist eher Galgenhumor. Wie soll man dieser Übermacht an negativen Schlagzeilen auch begegnen? Die Krise kam schneller und gewaltiger als erwartet. Die Menschen drehen am Rad und irgendwie scheinen die Gesetze dieser bis ins kleinste geregelten Welt infrage gestellt zu werden. Zeit und Raum bekommen im wahrsten Sinne eine neue Bedeutung. Man fühlt sich haltlos, ratlos, alleine gelassen. Unsicherheit macht sich breit. Dass es mir nicht alleine so geht, zeigen die irrationalen Handlungen verschiedener Mitmenschen: tonnenweise wird Klopapier gekauft (wenn nicht geklaut). Kann man in kürzester Zeit so viel Stuhlgang haben? Wieviel muss man dafür essen? Oder haben jetzt alle Reizdarm?

Passend zum Thema brachte die Medical Tribune diesen Artikel mit dieser genialen Überschrift samt schmackhaftem Bild

Wie im schlechten Film

Die Menschen sind gestresst. Nach dem Klogang waschen sie sich wenigstens die Hände, wie die fehlende Seife in den Supermarktregalen zeigt. Waschmittel gibt es auch keines mehr… Ich kombiniere: massenhaft Reizdarm mit Inkontinenz oder muss man mehr waschen, weil es kein Toilettenpapier mehr gibt? Und dann das Desinfektionsmittel: nichts mehr da. Hygiene ist ja löblich, aber muss es denn auch desinfizieren sein? Brennt das nicht bei dem Reizdarm?

Verständlich, dass die Leute gereizt sind. Ob ich mal die Verkäuferin frage? Alleine schon die Silbe “Des-” läßt der Verkäuferin den Rachen zuschwellen. Hasserfüllte Augen, die Halsvenen gestaut. Dabei wollte ich doch nur meine Des-Orientierung äußern…

Die Obstregale sind auch leer, die Konserven ebenfalls. Bei so viel Obst und dann noch Nudeln und Konserven kann der Darm schon rumoren. Was ist los? Sind jetzt alle Prepper geworden? Steht der Russe vor der Tür? Olga lacht. “Ja so war das in den letzten Tagen der Sowjetunion auch!”. Stimmt, im Osten war das manchmal auch so. Frei nach der Devise: “Erst mal anstellen in der Schlange vor dem Konsum, auch wenn man nicht weiß was es dort gibt, es muss was seltenes sein!”

Leere Regale: “Wie im Osten”

Mal Spass beiseite. Das Ganze fühlt sich an wie im Film. Wann ist der bitte zu Ende? Die Leute sind wie wahnsinnig. Die Praxis ist gerammelt voll. Nachdem die Zahlen der positiv getesteten Corona-Infizierten im nahen NRW plötzlich in die Höhe geschnellt ist, glauben alle Corona zu haben. Anfang März erscheint das jedoch übertrieben. Aber alle wollen sich testen lassen! Wenige Tage später werden sie von den Arbeitgebern geschickt: weil sie nur mit negativem Testergebnis weiterarbeiten sollen, “muss jetzt der Hausarzt den Test durchführen”.

Auswahlkriterien für die Testung

Inzwischen ist ein Testzentrum in Osnabrück eingerichtet worden. Nur begründete Verdachtsfälle werden vom Gesundheitsamt gelistet und bekommen einen Termin: Personen, die Kontakt mit einer positiv getesteten anderen Person hatten oder in einem Risikogebiet waren und Symptome zeigen. Die Listung erfolgt ausschließlich über das Gesundheitsamt. Hausärzte können bei vorhandener Schutzausrüstung ebenfalls die Abstriche durchführen – theoretisch, denn uns fehlt die Ausrüstung! Daher sind wir nicht verpflichtet.

Alltag an der “Front”

In der nachfolgenden Woche rennen sie uns die Praxis aus einem anderen Grund ein: die Arbeitgeber möchten, dass die gesunden Patienten sich krank schreiben lassen, da sie den Betrieb z.T einstellen müssen (aus finanziellen Vorteilen). Doch das darf ich rechtlich nicht bei Gesunden! Sind die denn alle belämmert?

Zeitgleich beginnen wir, Patienten mit leichten oberen Atemwegserkrankungen telefonisch krank zu schreiben (neuerdings möglich). Die Tür wird verschlossen, die Patienten nur einzeln hereingelassen. Krankschreibungen und andere Dokumente wie Rezepte usw. werden am Fenster herausgegeben. Dadurch wird die Sprechstunde zwar etwas ruhiger, aber das Telefon klingelt ständig. Anspannung ist in der Luft.

“Houston, wir sind am Arsch!”

Inzwischen arbeiten wir mit den einfachen Masken, wohlwissend, dass die weniger uns selbst, sondern mehr unser Gegenüber schützen. Wir haben nach wie vor nicht genügend richtige Schutzausrüstung und stellen somit auch eine Gefahr für unsere schwerer erkrankten Patienten dar. Nicht nur die steigenden Zahlen, die Ungewissheit bzgl. des Virus, die allgemeine Unsicherheit, sondern auch der blanke Mangel an richtigen Masken gibt uns das Gefühl: “Wir sind am Arsch!”

Spätestens die Rundmail eines Ärzte-Verbandes macht mich völlig fertig: eine Anleitung zum Selberbasteln von Schutzmasken!!! Armes Deutschland!

“Wir sind gut vorbereitet”

Jens Spahn, Bundesgesundheitsminister, Januar 2020

Lambarene. Damit vergleicht eine meiner Kolleginnen die aktuelle Arbeitssituation. Lambarene ist eine Stadt in Gabun, zentrales Afrika. Hier hat Albert Schweitzer gewirkt und hätte sicherlich auch gewürgt, hätte er von unseren Zuständen gewusst. Ja das ist Afrika, dort werden z.T. noch medizinische Einmalhandschuhe ausgewaschen und zum Trocknen auf die Wäscheleine gehängt – und bestimmt auch Masken selber genäht

Sind wir also “gut vorbereitet”? Nach allem, was wir jetzt wissen, nein. Man muss die Verantwortlichen bei aller Kritik aber auch etwas in Schutz nehmen: dieses Ausmaß und die Geschwindigkeit waren nicht wirklich abzusehen, ein einmaliger Fall in Deutschland und Europa und der Welt! Man kann nicht milliardenfach hochwertige und teure Ausrüstung jahrelang parat haben, zumal die auch irgendwann vergammelt. Nach Hühner- und Schweinegrippe habe wir es gesehen: Berge von Impfstoffen und Medikamenten kosteten Milliarden und landeten schließlich ein paar Jahre später im Klo – womit wir wieder am Ausgangspunkt des Beitrags wären 😉

Die Wucht der Pandemie war so nicht vorhersehbar. Allerdings ist es fraglich, wie Schlüsselindustrien verkümmern können, ohne dass man ein “Backup” hat, eine Möglichkeit die Produktion schnell hochzufahren. Im Herbst 2019 gab es bereits vor Corona einen Engpass an “primitivsten” Medikamenten: z.B. war Ibuprofen 600 mg (ein Schmerzmittel) über Wochen bis Monate nicht lieferbar! Wie geht denn so etwas? Ganz einfach: in Deutschland ist die Produktion für dieses extrem billige Medikament zu teuer. Also wird es hier nicht mehr produziert, sondern vorwiegend in China und Indien!

Das steht ganz im Einklang mit der Philosophie, wie das Gesundheitswesen betrieben wird. Das Gesundheitswesen ist nicht erst mit der Corona-Krise an seine Grenzen gelangt, sondern war bereits vorher in einer Dauer-Krise! Aus Profitgründen wird seit der Einführung der DRGs/Fallpauschalen Raubbau am Personal aber auch materiell betrieben, und das in einem kriminellen Stil. Bereits unter “normalen” Bedingungen brannte das Personal aus. Das ist der eigentliche Skandal, eine stille Katastrophe vor der Katastrophe!

Jetzt soll dieses ausgemergelte Personal auch noch die zusätzliche Belastung stemmen?! Ja, das wird es, weil die meisten Mitarbeiter ein Verantwortungsgefühl haben. Die menschlichen “Kosten”, die die Mitarbeiter zahlen werden ist kaum abschätzbar!

Auf der anderen Seite warnten Forscher bereits bei den ersten Infektionen in Italien, dass sich das Virus von Süd nach Nord ausbreiten wird. Scheinbar tatenlos wurde hierzulande zugesehen, wie in Italien die Infektionen explodierten. Als dann bei uns die 10.000er Grenze überschritten wurde, wurde auf verschiedenen politischen Ebenen diskutiert. Während die meisten anderen Länder bereits drastische Maßnahmen einführten, wie Ausgangsperren, feierten die Menschen in Deutschland die ersten frühlingshaften Grillpartys im Park – oder Corona-Partys.

Natürlich gibt es unterschiedliche Bewertungen, was die Effizienz von Ausgangssperren angeht, aber man möchte sich nicht ausmalen, wie die Lage in Italien ohne diese aussehen würde. Natürlich kann keine Rede sein von einer derartigen Ausgangssperre, wie sie in Kriegsgebieten mitunter durchgesetzt wird, wenn auch zumeist eher als “nächtliche Ausgangssperre”. Letztendlich ist der Kontakt zwischen Menschen das Entscheidende und den gilt es zu unterbrechen oder zu vermindern. Traurig, dass jedes Bundesland bzw. Region das selber gestaltet.

Deutschland – eine Ansammlung von Egomanen

Individuelle Freiheitsrechte sind essentiell in einer gesunden Gesellschaft und man kann glücklich sein, dass es hierzulande genügend Menschen gibt, die dafür kämpfen würden, wenn es darauf an käme. Der “böse Zwilling” der individuellen Selbstbestimmung ist der Egoismus. Um den Wert einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zu erhalten, muss man diese vor der potentiell zerstörerischen Art des Egoismus schützen. Eine Entfaltung des Einzelnen (oder einer Gruppe) auf Kosten einer anderen Person oder der Gesamtheit der Bevölkerung zerstört das gesellschaftswichtige WIR.

Beispiel Ausgangsbeschränkung oder Kontaktverbot: Man kann z.B. von einer zeitlich Ausgangsbeschränkung oder Kontaktverbot halten was man möchte. Wenn aber das “Egojede möglicherweise schützende angeordnete Maßnahme als fundamentalen diktatorischen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte deklariert, nur weil man nicht mehr seinen Cocktail in seiner Lieblingskneipe schlürfen darf, dann zeigt das deutlich die eigene Überhöhung über Andere und die Gemeinschaft. Dies kann auch als Desinteresse an der Gemeinschaft, von der dieser Einzelne im Übrigen generell noch profitiert, gewertet werden.

Beispiel Masernimpfung: Vor kurzem wurde die Masernimpfung als Pflichtimpfung eingeführt. Gerade als die Corona-Infektionen in Deutschland explodierten, meldeten die Medien, dass es erste Klagen von Eltern gegen die Impfung gebe. Daß diese Menschen sich durch die Impfung nicht nur selber schützen, sondern auch andere, die nicht geimpft werden können (da Lebendimpfstoff = für Immunsupprimierte nicht geeignet), daran denken diese Menschen nicht…

Überspitzt könnte man sagen, der so beschriebene Egomane “toleriert” die offene Gesellschaft, solange sie sich ihm nicht anstrengend wird oder gar im Weg stellt. Jede Person, die in einer “freien” Gesellschaft leben möchte, hat die Pflicht, diese zu erhalten. Dazu gehört auch manchmal der Verzicht und die Beschränkung zum Wohl dieser Gesellschaft. Wer dies nicht schafft wäre dann gewissermassen auch ein Beispiel für eine gescheiterte Integration

Liebesgruesse aus ¨Piter¨

 Es ist mal wieder soweit: Urlaub. Dieses Mal steht eine Reise an, die eigentlich schon längst überfällig ist: ein Besuch in Russland. Drei ganze Jahre sind wir nicht dort gewesen, Nicos Ur-Oma kennt “Nico-Mann” nur von Skype bzw. What’sApp-Telefonaten. Kränklich und fast 92 Jahre auf dem Buckel, kann jeder Tag der letzte sein. Überhaupt ein Wunder, dass sie so lange durchgehalten hat. Vielleicht treibt sie auch der Wunsch an, in ihrem Leben Nico mal im Arm zu halten, bevor sie das Zeitliche segnet.
Drei Jahre etwa ist es auch her, dass sie sich das letzte Mal aus der Wohnung getraut hat. Zu weit ist der Weg aus dem fünften Stock durch das dunkle Treppenhaus, unklar, ob sie den Rückweg schafft. Und auf der Strasse vor dem Haus: tausend Stolperfallen, nicht nur für ältere Menschen.

20180703_104255

Nico studiert schon mal die Sicherheitshinweise

Für Nico, unseren ¨kleinen Russen¨, ist es die erste Russland-Reise, für mich wird es das erste Mal sein, mit einer russischen Fluglinie zu fliegen.

Solche und solche – also welche?

Los geht es ab Düsseldorf. Mit unseren Pässen in der Hand stellen wir uns in die lange Schlange vor der Passkontrolle. Ungefähr 80 Leute stehen da aus allen möglichen Ländern. Zwei Beamte kontrollieren im üblichen Beamtentempo die Pässe. Neben uns zwei weitere Schalter für EU-Bürger, an denen nur wenig los ist. Wegen Olgas russischem Pass müssten wir ja getrennt durchgehen, aber Familien zu trennen macht -für den normalen Verstand- wenig Sinn, zumindest mit kleinen Kindern. Zudem hat Olga ja einen gültigen Aufenthaltstitel und würde daher auch nicht ganz mit den anderen zusammen passen.

Ich gehe zu einem der Kontrollhäuschen und frage den jungen Beamten, ob wir denn nicht als Familie und Aufenthaltstitel usw. zusammen hier durchgehen könnten. Er guckt mich grimmig an. ¨Nein, das geht nicht!¨ sagt er. In seiner Stimme schwingen Machtbewusstsein und eine gewisse Überheblichkeit mit. Wenn man einen Teil seiner Kindheit in der DDR aufgewachsen ist, weiss man, wann es Sinn macht zu diskutieren und wann nicht. Ich stelle mich wieder zu Olga und Nico in die Schlange. Wie wir so stehen, wird Nico so langsam ungeduldig und beginnt zu quängeln. Zudem sind auch noch die Windeln voll und ausgeschlafen ist er zu so früher Stunde auch nicht. Also entscheiden wir uns dazu, dass Nico (deutscher Pass) und ich zusammen durchgehen. Ich gehe dieses Mal zu dem anderen Schalter und lege die Pässe vor.

h

Wenn man’s erst einmal geschafft hat…

Irgendwie kann ich es mir doch nicht verkneifen, eine gewisse Diskriminierung anzumerken. Der junge Beamte guckt hoch und fragt freundlich: ¨Wo ist denn die Mama?¨ Ich zeige in die Schlange. ¨Sie soll kommen!¨, er winkt. Nun stehen wir also unerhofft wieder zusammen an dem Häuschen, die Unterlagen werden bearbeitet und Olga bekommt noch ein paar Tipps zu ihrem Aufenthaltstitel. Ich zwinkere noch dem anderen grimmigen Beamten zu, der uns zuerst weggeschickt hatte. Und dann sind wir durch, ganz schnell. Geht doch! Alles nur Willens- und Ermessensfrage! Und: es gibt immer solche und solche.

Fliegen mit “Äroflöt

Es ist das erste Mal, dass Nico ein eigenen Sitzplatz hat im Flugzeug, eine Erleichterung für uns, weil er jetzt nicht mehr auf unserem Schoß sitzen muss. Wir fliegen mit Россия (Rossija), einem Ableger von  Аэрофлот (Aeroflot). Es war die einzige günstige Verbindung nach St.Petersburg mitten in der Zeit der Fußball-Weltmeisterschaft, die wir noch bekommen konnten. Der Flug ist recht kurz, wir lassen schnell Polen unter uns vorbeiziehen und schon erstreckt sich die Ostsee unter uns. Getränke und Knabbereien werden sparsam verteilt. Es ist eben eine low-cost oder Budget-Airline.
Kurz vor der Landung kommt Olga mit einer anderen Passagierin ins Gespräch. Sie heißt Anna, stammt aus St. Petersburg und hat gerade Ihren Verlobten in der Nähe von Osnabrück besucht – ach nee, so klein ist die Welt. Sie spricht bereits etwas Deutsch und wartet auf die Dokumente für die Hochzeit. Die Landung verläuft problemlos, ich habe meinen Jungfernflug mit einer russischen Fuglinie überlebt. Nach der Landung klatschen die meisten Passagiere. Eine eigenartig anmutende Sitte. Nur ein Relikt aus der Vergangenheit oder doch nur Glück? Ich denke, es ist Ersteres.

“Ленинград город герой” – Leningrad, Stadt der Helden”


Wir rollen über das Flugfeld, vorbei am Tower und an endlosen Flughafengebäuden. Mit lateinischen und kyrillischen Buchstaben begrüßt die Stadt die Besucher: St. Petersburg -Leningrad-Heldenstadt. Schon hier soll der Ankömmling die Bedeutung der Stadt für die russische Seele beginnen zu begreifen , doch dazu später mehr.

20180703_160912

Leningrad, Stadt der Helden – Begrüßung am Flughafen

Im Terminal gibt es die Möglichkeit, ein Taxi zu einem Festpreis zu bestellen. Immerhin haben wir einen großen Koffer dabei, den Buggy für Nico und die ein oder andere Tasche. Anna begleitet uns noch ein Stück Richtung Taxistand, dann trennen sich unsere Wege. Unser Taxifahrer heisst Marat und kommt aus Usbekistan. Er ist ein typischer Gastarbeiter aus Zentralasien. In den grossen Städen Russlands, vor allem aber Moskau gibt es zunehmende fremdenfeindliche Gewalt gegen Gastarbeiter aus diesen ehemaligen Sowjetrepubliken. Besonders natürlich die vielen Illegalen habe darunter zu leiden, aber auch jene, die einfach so aussehen, weil die Eltern oder Grosseltern einst aus diesen Regionen stammten. In Moskau -und vielleicht nicht nur dort- gibt es regelrechte organisierte Gruppierungen, die sich zur Aufgabe gemacht haben, Illegale oder vermeintliche Kriminelle aus auf solchen Regionen aufzuspüren und zu melden, zu bedrängen, zu bedrohen. Doch nicht nur das. Gewalt spielt zunehmend eine Rolle, Schutz können sich diese Menschen nicht erhoffen.

20180703_162034

Neue Autobahn


Marat versichert uns, solche Probleme nicht zu haben. ¨Piter¨, wie St. Petersburg liebevoll von seinen Bürgern genannt wird, sei anders als Moskau, freundlicher. Eben anders.
Sicher und mit ruhigem Gaspedal fährt er uns der mit 5 Millionen Einwohnern zweitgrössten Stadt Russlands entgegen. Auf einer neuen grossen Autobahn, die sicherlich für die Fussball-WM gebaut wurde, geht es vorbei an unzähligen Baustellen. In der Ferne sieht man noch grössere Bauprojekte. Bei diesem Anblick und ohne Schlaglöchern (!), hat man fast das Gefühl in einem anderen Land zu sein.
Mit Mühe finden wir in der Nähe eines Handelshafens und einem Industriegebiet unser Hotel, das “Baltiskaya”. Es scheint ein typischer 60er Jahre-Bau zu sein mit dem konservierten Charme der Sowjetzeit. Mit dem Koffer um die hier wieder reichlich gesäten Schlaglöcher herummanövrierend, die grossen Treppenstufen hinauf, sind wir bereits das erste Mal verschwitzt.
Die Dame an der Rezeption nimmt unsere Pässe entgegen und wir bekommen die Schlüssel. Der Fahrstuhl ist so klein, dass wir nicht alle zusammen (selbst ohne Buggy) hineinpassen. Drinnen empfängt uns schlechte Luft und Dimmerlicht. Aber er fährt. Im Zimmer setzt sich der Charme von unten fort, um im Bad harmonisch auszuklingen…

20180703_171657

Hotel “Baltiskaya”

Die Fensterscheiben haben anscheinend schon länger keinen Kontakt mehr mit Wasser gehabt, aber die Bettwäsche ist sauber. Na gut, immerhin ist es schwer in dieser Metropole ein Hotelzimmer zu einem vernünftigen Preis zu finden und jetzt zur WM hätten wir locker das Vielfache ausgeben können.
Ich drehe den Wasserhahn auf, möchte mir Hände und Gesicht waschen. Doch das Wasser riecht, nein stinkt regelrecht nach Metall! Es ist ekelig! Auf dem Gang hatte ich einen Wasserpender gesehen, der mit frischen Wasserflasche befüllt wurde. Mit 3 Flaschen à 1,5l melke ich also diesen Wasserspender. Jetzt kann ich mir die Hände waschen… Herrlich!

Immer den Chinesen hinterher!

Nach einer kurzen Ruhepause zieht es uns nach draussen, wir müssen ein paar Lebensmittel kaufen. Anschliessend wollen wir einen ersten Eindruck von der Stadt bekommen. An der Rezeption erkundigen wir uns nach dem einfachsten Weg ins Zentrum.

20180705_204704

Das Gebäude einer verlassenen Marine-Akademie

¨Wenn Ihr ganz viele Chinesen seht, dann seid Ihr da!¨, sagt die Dame und wir machen uns auf Richtung Bushaltestelle. Pfützen, Schlaglöcher, lose Steine säumen unseren Weg. An dem verlassenen und fast verfallenen Gebäude einer Marineakademie warten wir auf den Bus. Man merkt, St.Peterburg ist eine Metropole, deren Geschichte eng mit dem Meer verbunden ist. Gelegen an der Newa, mitten im sumpfigen Delta des Flusses, wurde sie 1703 von Peter dem Grossen gegründet. Aber schon vorher gab es Siedlungen und das Gebiet war Zankapfel zwischen dem (damals) starken Schweden und einem russischen Staat namens Nowgorod (nicht die Nischnij Nowgorord), der sich zwischenzeitlich zwischen Ostsee und dem nördlichen Ural ausdehnte.

20180703_194123

Seitenstrasse mit Blick auf die Admiralität

Die Siedlung auf der vorgelagerten Insel Kotlin trägt seitdem den schwedischen Namen Kronstadt . Auch andere schwedische Siedlungen hat es hier gegeben. Der grosse Peter wollte aber gerne Zugang zum Meer für sein riesiges Reich haben. Zeitgleich wollte er aber auch seine Hauptstadt hier bauen, die als ¨Fenster nach Europa¨ wirken sollte. Durch die unwirtlichen Naturverhältnisse und die brutal-ärmlichen Bedingungen zur damaligen Zeit, fanden Zehntausende Zwangsarbeiter bei der Verwirklichung Peters Vorhaben den Tod.

Der Bus kommt, wir steigen ein. Die Fahrt geht vorbei an den Fabrikanlagen, von denen einige sehr sehr alt wirken, modernen Bürogebäuden, und herrlichen Altbauten. Immer wieder trifft man auf Zeugnisse der Seefahrt, sei es die zivile oder die Kriegsmarine. Der Bus hält an einer Art Marinemuseeum, davor stehen eindrucksvoll mehrere kugelige Stahlungeheuer, die kleine Noppen oder Stacheln zu haben scheinen. Das müssen Seeminen sein. Daneben eine Art Taucherglocke, so wie sie vor Urzeiten verwendet wurde. Und dann ist da noch ein kleines Modell eines U-Boots. Leute steigen aus, andere ein und der “Konduktor“, die Fahrkartenkontrolleurin, geht rum und verkauft Fahrkarten. Die Busse sind neu, sauber, ein Monitor zeigt die Strecke und die nächste Haltestelle an.

Venedig des Nordens

Wir nähern uns dem Zentrum: grosse, stattliche, bisweilen prunkvolle Gebäude zu beiden Seiten, unzählige Kanäle mit Brücken bringen uns der ¨Admiralitayskaya¨ näher, der Admiralität und dem zentralen Punkt. “Olga, hier gibt es Chinesen! Wir sind im Zentrum!¨, sage ich. Wir steigen aus und lassen uns treiben in dem Fluss der Passanten und lassen die Eindrücke der ersten Schritte in dieser Riesenstadt wirken.
Nach mehreren Kilometern zwingen uns Müdigkeit und Erschöpfung nach einem Abendessen zur Rückkehr. Nico hängt auch schon auf halb acht im Buggy, den wir uns von der Familie meines Bruders ausgeliehen hatten. Auf russischen Strassen ist es wie ein Härtetest für dieses Leichtgerät. Mal schauen, ob dieser zu einem Crashtest mutiert…

Am nächsten Morgen sind wir etwas gerädert. “Etwas” ist noch untertrieben. Irgendwie war das gestern doch etwas anstrengend, zumal Nico nicht einschlafen und das Gezeter und ¨Geflöte¨ (Rumquaken, rumschreien etc.) gefühlt gar kein Ende nehmen wollte. Während wir unsere Knochen ¨zusammensuchen¨ ist Nico natürlich putzmunter: Nachttischlampen werden bewegt, Lichtschalter geknipst wie Stroboskoplampen in der Disko und Steckdosen untersucht. Boah, ich könnte ausrasten!

Nach einem Frühstück mit Gezappel und Gezeter und Chinesen (die bevölkern auch das Hotel)geht es langsam los.
Es hat geregnet, die Pfützen vor dem Haus sind gut gefüllt, aber die Sonne kommt raus und bringt das Wasser eines nahen Flussarms der Newa zum Glitzern. Mit dem Bus geht es wieder in die Innenstadt. Bei herrlichem Wetter geht es über recht gute Gehwege zur Admiralität.

20180704_113508

Admiralität mit Schiffchen auf der Turmspitze

Hübsche Parke erstrecken sich hier, Blumen blühen, die Menschen flanieren.
Das imposante Gebäude, dass nach seinem Bau zu Beginn des 18. Jahrhunderts zunächst als Werft gedient hatte, wurde später zum Hauptquartier der Russischen Marine: zunächst der des Zaren und nach einer Unterbrechung während der Sowjetzeit ist sie seit 2012 auch nun wieder das Hauptquartier der Marine der Russischen Förderation. Die vergoldete Kuppel, die an der Spitze ein kleines Schiff trägt, ist weithin sichtbar. Von diesem zentralen Punkt aus wurden die grossen Prachtstrassen -die Prospekte– ausgerichtet, von denen aus man auch in kilometerweiter Entfernung die Kuppel sehen kann.

20180704_115249

Spaaaaaaß!

Wir passieren joggende Soldaten, Seemänner in Marineuniform. Nico ist beeindruckt und versucht mit den kräftigen Mannen Schritt zu halten – und wir mit ihm. Er hat sichtlichen Spass daran. Wir sind kaputt. Wir entdecken einen kleinen netten Spielplatz neben der Admiralität. Nico und Olga schaukeln und ich vertiefe mich in den Reiseführer.
Beim Durchblättern -ich hatte vorher leider keine Zeit mich wirklich vorzubereiten- wird mir noch deutlicher, wie gross diese Stadt ist und wie viel sie zu bieten hat. Wahnsinn! Mir wird klar, wir werden nur einen kleinen Teil sehen können. Hier muss man wirklich viel Zeit mitbringen!

20180704_122508

Der Eherne Reiter: Sieg über die Schweden

Nach einem Eis geht es weiter zur Newa. Hier steht der Eherne Reiter, neben der Admiralität eines der Wahrzeichen der Stadt. Auf einem riesiger Findling, der als Sockel dient erhebt sich Peter der Grosse auf einem Pferd in den Himmel. Die Vorderhufen in die Luft hebend, steht das Pferd auf den Hinterbeinen und zertritt dabei eine Schlange. Dies soll den Sieg über die Schweden darstellen, die Schlange symbolisiert die Schweden. Die Inschrift am Sockel ¨Peter dem Ersten – Katharina der Zweiten¨ verrät, wie sehr sich die einstige Grande Dame emporheben und verewigen wollte.
Wir schlendern weiter Richtung Isaaks-Kathedrale. Am Abend zuvor konnte ich sehen, wie Menschen auf die Plattform hoch über der Stadt geklettert waren. Das will ich auch.
Das Gotteshaus gehört mit ihren 101,5 m Höhe zu den grössten sakralen Kuppelbauten der Welt.

20180703_182449

Die Isaaks-Kathedrale

Die Besucherplattform ist natürlich nicht so hoch, aber sicherlich trotzdem interessant. Nico und Olga wollen lieber unten bleiben. Eine Wendeltreppe führt in unzähligen Biegungen nach oben auf ein Zwischenpodest. Anschliessend geht es über ein Dach und einer weiteren Treppe noch ein paar Meter höher. Von allen Seiten hat man einen wunderbaren Ausblick, unter anderem, weil die Befestigungen nicht so streng sind. Das nutzen einige aus. Ein Mann schiebt sich an mir vorbei, klettert über das Geländer und posiert mit emporgehobenen Armen für ein Foto – zwei Schritte hinter ihm geht es steil abwärts….

 

20180704_151754

Ausblick von der Besucherplattform

In den Sommermonaten ist es möglich bis ca. 4 Uhr hier oben zu sein! Das wäre sicherlich fantastisch, aber für uns leider momentan nicht drin.
In die Kathedrale kommt man heute leider nicht rein, obwohl dies sicherlich sehr interessant gewesen wäre.

 

Gebeine unter den Füssen

Was mich bei St. Peterburg immer wieder erstaunt ist die “Internationalität” bereits in der Anfangszeit. Dass heutzutage eine Vernetzung und reger Austausch zwischen Menschen in unterschiedlichen Ländern besteht, daran haben wir uns gewöhnt und ist auch Teil der sog. Globalisierung. Doch umso erstaunlicher ist der überaus rege Austausch vor 200, 300 Jahren. Der Zar hat unzählige Bauwerke von französischen, deutschen und vor allem italienischen Architekten und Baumeistern bauen lassen, Wettbewerbe zwischen diesen “Experten¨ ausgeschrieben und hat scheinbar ein reges Kommen und Gehen am Hofe befeuert. Natürlich gab es das in anderen Städten Europas auch und stellt für sich ja keine Besonderheit dar. Aber in diesem Fall St. Petersburg erstaunt es mich angesichts der Grösse der Stadt, die aus dem Sumpf gestampft wurde, besonders. Es war ein ehrgeiziges Projekt an einem sehr unwirtlichen Ort, zumal noch umkämpft. Die Ambitionen eines reichen Mannes, Herr über ein riesiges Reich -z.T. Noch nicht richtig erforscht- mit einer sehr armen Bevölkerung, der ein ¨Fenster zur Welt¨ erschaffen wollte. Er wollte Russland an den Fortschritt im restlichen Europa der damaligen Zeit anschliessen, zumindest aber sich selber ¨connecten¨ – und darstellen. Daher das emsige Bestreben, Künstler und Baumeister von Rang und Namen der damaligen Zeit herbeizuzitieren. Man könnte von einer “historischen Arbeitsmigration” sprechen, zugegeben kein Massenphänomen im eigentlichen Sinne. Was die Arbeiter betraf, die den sumpfigen Untergrund trockenlegten und durch Arbeit krank wurden und ihr Leben lassen mussten, so war es schon ein ¨Massenphänomen¨. Man kann sagen, dass weite Teile der historischen Stadt auf Knochen gebaut wurden. Zehntausende liessen ihr Leben. Zumeist handelte es sich um zwangsrekrutierte Leibeigene.

Von einer Jägerin und Sammlerin

Nach dem Mittagessen in einem hübschen usbekischen Lokal geht es weiter zum Winterpalast, in dem die Eremitage untergebracht ist. Die Eremitage stellt nach dem Louvre in Paris die zweitgrösste Kunstaustellung der Welt dar.

20180704_163509

Die Eremitage

Zum Vergleich: die Ausstellungsfläche des Bayrischen Nationalmuseums beträgt 13.000 Quadratmeter (die grösste in Deutschland, international Platz 43), die der Eremitage 67.000 und der Louvre mit 73.000 noch ein ¨Quäntchen¨ mehr. 1764 gegründet, ist sie sogar noch knappe 30 Jahre älter als der Louvre. Ursächlich für den Reichtum dieser Ausstellung ist der Sammlertrieb Katharinas. Würde es sich nicht um wertvolle Gegenstände handeln, wäre sie wohl der erste “adlige Messie der Geschichte”… Was für andere Damen Handtaschen oder Schuhe sind, waren für sie eben (ausserdem noch) Kunstgegenstände – und Männer

 

20180704_163517

Der Palastplatz vor der Eremitage

Nicht etwa, das wir nicht in die Eremitage reingewollt hätten, aber stundenlang mit Nico-Mann in der Schlange zu stehen und dann noch das arme schreiende Kind durch die vollen Gänge zu schleifen, ohne, dass er irgendwo hätte dran herumpopeln oder herumklettern könnte – nein, das wäre auch uns zu viel gewesen. Also müssen wir da mal rein, wenn Nico schon grösser ist. Die Wahnsinns-Sammlung und den Gebäudekomplex von innen wollen wir auf jeden Fall mal sehen.
Das Äussere und der Platz vor dem Winterpalast ist nicht weniger imposant: 5,4 Hektar gross und damit mehr als doppelt so gross wie der Rote Platz in Moskau! Umrahmt wird die grosse Fläche von Teilen des Eremitage-Komplexes. Gegenüber, halbrund, eine ebenso beeindruckende Fassade im Stil des Empires, in der sich ein doppelter Triumphbogen befindet. In der Mitte des Platzes befindet sich die 47,5 m hohe Alexandersäule aus rotem Granit.

20180704_162758

Alexandersäule

Sie soll die höchste ihrer Art weltweit sein und 500 Tonnen wiegen. Auf diesem Platz ereigneten sich in der Vergangenheit historische Ereignisse wie der Petersburger Blutsonntag 1905, als Arbeiter gegen unmenschliche Arbeitsbedingungen demonstrierten, oder auch die Oktoberrevolution von 1917, als die Bolschewiki die Macht übernahmen.
Neben der Säule steht ein junger Mann mit Gitarre, eine Schar Menschen um ihn herum lauschen den Klängen und den russischen Liedern. Nico hält es nicht länger im Kinderwagen, der kurze Schlaf ist vorbei. Schon rennt er los, quietscht vergnügt, das ganze Gesichtchen sieht aus wie das einer Grinsekatze. Abwechselnd bewachen wir Kinderwagen und rennen Nico hinterher. Tanzend läuft er im Kreis. Nach etwa 45 min setzt dann die Müdigkeit ein – bei uns wohlgemerkt, Nico könnte noch länger herumtoben…

 

Petergof*

Am nächsten Tag geht es aufs Wasser: Wir wollen mit dem Boot nach Peterhof fahren. (*Im Russischen gibt es kein “H”, daher wird es mit “G” ersetzt.)  Pünktlich legt das Boot ab und saust nur so über das Wasser.

20180705_120723

Peterhof

Nach etwa 40 min haben wir unser Ziel erreicht. Hier, etwa 30 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, befindet sich einer der bedeutesten Schloss- und Parkanlagen, die gerne als ¨Russisches Versaille¨ bezeichnet wird. Zunächst nur als Landhaus und eine Art Rastplatz auf dem Weg zur Festung Kronstadt geplant, baute der Zar Peter der I. hier eine Residenz. Diese wurde in den folgenden Jahrzehnten noch weiter ausgebaut.

20180705_121455

Ausmaß der Zerstörung und Wiederaufbau

Genauso wie im restlichen St. Petersburg gestalteten auch hier internationale Baumeister und Gartenbaumeister Park und Gebäudekomplexe. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Areal von der Wehrmacht besetzt und die wertvollen Gegenstände geplündert. Die Gebäude selber nahmen im Zuge der Kämpfe schweren Schaden, doch schon direkt nach Kriegsende begannen bereits die Wiederaufbaumassnahmen.

20180705_122026

Die “Große Kaskade”

Heutzutage kann sich der Besucher wieder an diesem wunderschönen Ort erfreuen: Grandiose Architektur, viel Gold und herrliche Parkanlagen, in denen zahlreiche Springbrunnen den Besucher erfrischen. Diese kommen übrigens seit jeher ohne Pumpen aus (also die Springbrunnen), da Druck und Wasser aus höheren Lagen genutzt wird.

20180705_123436

Unbeschreiblich…

 

Nico rennnt durch die Gegend, wir geniessen ein herrliches Wetter. Nach meheren Stunden machen wir uns wieder auf den Weg zum Steg, um das Boot zurück in die Stadt zu nehmen. Anschliessend bummeln wir auf dem Weg zu einem Lokal für das Abendessen noch durch die Stadt. Heute ist das WM-Spiel Schweden gegen Schweiz. Plötzlich stehen wir inmitten jubelnder und gröhlender Fussballfans beider Mannschaften, die sich in den Armen liegen und amusiert die Strassen bevölkern. Eine interessante Athmosphäre.

20180705_124743

Tritonfontäne

 

Es geht den Nevskij-Prospekt rauf und runter, entlang zahlreicher Nobelboutiken und auch kleinerer Shops. Der Verkehr stockt, Luxuskarossen schieben sich langsam vorwärts. Diese Prachtstrasse, benannt nach Alexander Nevsky, strotzt vor imposanten Bauten.

bb

Am Nevskij-Prospekt, links das Singerhaus

Unter anderm finden sich hier eine historische Shopping Mall aus dem 18.Jh. (Gostiny Dvor), Statuten, das Singer-Haus, der von Rastrelli erbaute Stroganov Palast, ein halbes Dutzend Kirchen aus dem 17. Jh und vieles andere mehr. Es soll an die Champs-Elisee erinnernt, was es auch tut. Auch Prominente der damaligen Zeit verweilten gerne hier, so z.B. Alexander Puschkin, aber auch Dostoyevski, der einen Teil seiner Werke hier spielen liess.
Irgendwann sind wir durch. Wir sind fertig. Also geht es langsam Richtung Hotel.

a

Nicht umsonst als “Venedig des Nordens” bezeichnet

 

Immer munter rauf und runter

Am nächsten Tag hat es sich das Wetter anders überlegt. Es regnet. Und wir müssen auschecken. Heute Abend soll es mit dem Zug vom Ladoshkij Woksal am anderen Ende der Stadt Richtung Osten, nach Kirov gehen. Zuvor wollen wir uns aber noch mit Julia, einer alten Freundin von Olga treffen. Sie hat inzwischen drei Kinder und wohnt mit dem Mann in der 5 Millionen-Metropole.

aa

Prachtvolle Gebäude soweit das Auge reicht

Wir nehmen ein Taxi bis zum Bahnof. Wir wollen zunächst am Vormittag das sperrige Gepäck dort verstauen und uns dann mit Julia treffen. Ohne Koffer geht es zur Metro. Eigentlich graut mir bereits davor, da mir die Moskauer Metro noch sehr gut in Erinnerung geblieben ist: lange Rolltreppen, die in die Tiefe führen, wahnsinnig viele Menschen, Gedränge und Gerempel bei Ein- und Ausstieg, aber auch eine unschlagbare Effektivität und Geschwindigkeit. Den Koffer haben wir abgegeben, jetzt bleibt uns noch der Kinderwagen und Rucksäcke. Wir rollen auf die erste Treppe zu, die uns in die Tiefe führt. Menschen strömen an uns vorbei.

aaaa

Härtetest für Mensch und Material

Zusammen tragen wir Nico im Kinderwagen nach unten. Er findet das alles sehr amüsant, bestaunt aus seiner ¨Sänfte¨ die Vorgänge und unsere Schufterei, zuweilen gibt er noch unverständliche Anweisungen. Aha, na super… An der nächsten Treppe gibt es zwei Eisenstangen, die eine Art Rampe für Kinderwagen darstellt. Leider ist unser etwas zu schmal, so dass die Räderchen mal etwas verbogen sind, mal auf der Kante nach unten geschoben werden. Mein Bruder hat sich den Wagen bei Rückgabe glücklicherweise nicht so genau angeschaut (ach Quatsch, war nen Spass, Digger!).
Dann geht es weiter durch endlose Gänge bis wir zu den Rolltreppen gelangen. Um es mal vorweg zu nehmen: die Rolltreppen in Deutschland sind geschwindigkeitstechnisch ¨geriatrische Rolltreppen¨. Hier laufen sie wirklich schnell, sodass man beim Betreten sehr aufpassen muss.
Aber schnell müssen sie auch sein, ansonsten würde man nie ankommen: die U-Bahnschächte liegen in unvorstellbarer Tiefe. Mehere Minuten (!) rollt die Treppe steil (also wirklich steil!) in die Tiefe. Man kann zunächst nicht das Ende sehen. Um die Menschenmassen zu bewältigen laufen gleich mehere parallel, weiter drüben auf der anderen Seite gehts nach oben. Nico sitzt auf meinem Arm und jubelt.

b

Kontrollposten

Er findet das alles toll und zupft mir vor Begeisterung an den Haaren, während ich mich mit der anderen Hand festhalte.
Es geht immer weiter nach unten, fast schon unheimlich. Aufgrund der ursprünglichen sumpfigen Gegend musste die Petersburger Metro sehr tief verlegt werden: durchschnittich liegt das Streckennetz 50-75 m unter der Erdoberfläche, die Tiefe der tiefstgelegendsten Station, der Admiraliteyskaya wird je nach Quelle mal mit 86 m, mal mit 102 m unter Null angegeben. “Da musste erst mal hinkommen” – deswegen also die Rolltreppen.

 

aaa

Nico müde in der Metro – mit Papa-Mütze

Eigentlich ein idealer Schutz vor Bomben im Krieg, jedoch wurde die Metro hier im Gegensatz zu der in Moskau erst 1955 in Betrieb genommen. Gemeinsam haben beide Tunnelbahnen jedoch die reiche Ausschmückung der Bahnhöfe und die kilometerlangen Gänge, die Rolltreppen und die scheinbare Unpassierbarkeit für Rollstuhlfahrer und Kinderwagen. Zumindest in der Hauptverkehrszeit wird es zur Qual.
Wir haben es aber schliesslich doch geschafft, Julia und eines der drei Kinder zu treffen. Wir spazieren durch den strömenden Regen. Nico und die kleine Victoria beäugen sich zunächst vorsichtig, nehmen dann aber doch etwas Kontakt auf. Wir laufen zur Haseninsel am gegenüberliegendem Newa-Ufer. Hier liegt der historische Kern der Stadt: die Peter-und-Paul-Festung, eine sternförmige Anlage aus dem 18. Jahrhundert. Zunächst militärische Anlage im Krieg gegen die Schweden, so was sie später unter anderem Gefängnis und Hinrichtungsort des Zaren, wie auch der Kommunisten.  Hier wurden auch prominente Personen gefangen gehalten, so beispielsweise Dostojewski, Maxim Gorki und Lenins Bruder Alexander.

c

Auf der Peter-und-Paul-Festung

Heutzutage befinden sich hier einige Museen. Trotz Regenwetters entladen grosse Reisebusse immer wieder Menschenmengen. Wir strömen gemeinsam in den Innenhof. Hier finden sich Tafeln, die an die Schlacht von Stalingrad erinnern, auf einer das Foto des kapitulierenden Generalfeldmarschalls Paulus. Der Zusammenhang ist mir momentan nicht ganz klar. Stalingrad, das heutige Wolgograd, ist fast 1700 km weit weg. Das einzige, was diese beiden Städte verbindet sind das blutige Schicksal während des Zweiten Weltkriegs und die ehemalige Namensgebung zu Sowjetzeiten: Aus Stalingrad wurde später Wolgograd und aus Leningrad wieder St. Petersburg.

“Süsse Erde”

Eigentlich hatte ich eher eine Dokumentation über die Zeit der Belagerung, die fast 900 Tage dauerte (Sept. 1941 – Jan. 1944), erwartet. Während die deutschen Truppen zunächst die Nordwestfront der Roten Armee zurückdrängen konnte, gerieten sie aber bald ins Stocken. Nach vollständiger Umzingelung auf den Uferseiten blieb lediglich einzig der Ladogasee als Versorgungsroute für die eingeschlossene Bevölkerung. Die deutschen Angriffe verlagerten sich auf Bombaredements und Artilleriebeschuss, wobei auch gezielt Lebensmittellager beschossen wurden.

cc

Paulus kapituliert in Stalingrad

Die Folge war eine Hungerkatastrophe ungeheuren Ausmasses. Auf dem Schwarzmarkt wurde Erde, in die geschmolzener Zucker gelaufen war, als ¨süsse Erde¨ zu horrenden Preisen verkauft. SS-Sicherheitsdienstchef Heydrich bekräftigte in einem Schreiben an Hitler höchstpersönlich die “Auslöschung¨ der Stadt als Ziel. Die Menschen begannen alles, was organisch war, zu essen: Leder wurde ausgekocht, Klebstoffe, Schmierfett und Tapetenkleister verzehrt, Ratten und Krähen gegessen. Bald kamen Fälle von Kannibalismus hinzu (Februar 1942 waren es über 1000 Fälle). Da die Menschen zu entkräftet waren, um die Toten zu den Friedhöfen zu transportieren, lebten sie mit den Leichnamen weiter in den Häusern. Täglich schwärmten Brigaden von meist jungen Frauen aus, um nach Waisenkindern in den Wohnungen zu suchen. Trotz der Zerstörung versuchten die Bewohner das Leben weiterzuführen. Kinder besuchten so gut wie möglich die Schule, Studenten die Universität und es wurden kulturelle Veranstaltungen organisiert.

Einzige Versorgungsmöglichkeit stellte die Route über den Ladogasee dar, der im Winter für Lastwagen befahrbar war. Natürlich war der Weg gefährlich Tausende starben bei der Flucht und die Versorgung reichte selbstverständlich nicht aus. Insgesamt kamen rund 1,1 Millionen Menschen (Zivilisten!) ums Leben. Wikipedia (engl.) gibt 642.000 Tote durch die Belagerung an, 400.000 bei Evakuierungsmassnahmen. An Truppen standen auf russischer Seite 900.000 Soldaten etwa 700.000 deutschen, finnischen und spanischen Soldaten gegenüber.

Волково кладбище

Tote werden begraben, 1. Oktober 1942 – Quelle: RIA Novosti archive, image #216 / Boris Kudoyarov / CC-BY-SA 3.0, RIAN archive 216 The Volkovo cemetery, CC BY-SA 3.0

Über die Opfer der Wehrmacht und der assoziierten Truppen aus anderen Ländern gibt die englische Seite knapp 580.000 Fälle an, die deutschsprachige Seite kennt hingegen keine Angaben. Sie gibt aber Informationen über die grobe Tötungsursache: 16.470 tote Zivilisten durch Beschuss oder Bomben, aber etwa 1 Million durch Hunger!

dd

Weiteres Kriegsgerät, Artilleriemuseum

Nicht nur anhand der Geschichte dieser Stadt im WWII kann man den Vernichtungskrieg etwas begreifen. Wohlgemerkt hat jeder Krieg etwas Vernichtendes, baut ja geradezu auf Vernichtung auf. Wer, wen, warum und wann sind die Kriterien, die uns bei der Bewertung beeinflussen. Gott sei Dank haben wir jüngere Generationen keine eigenen Erfahrungen machen müssen!

Das Wetter ist schlecht, wir laufen etwas herum und nachdem die Kleinen auch langsam nass sind, beschliessen wir das Treffen in einem Restaurant ausklingen zu lassen.
Julia begleitet uns anschliessend noch zum Bahnhof. Hier verabschieden wir uns von ihr und der kleinen Victoria und auch von dieser herrlich interessanten Stadt, die uns wirklich in ihren Bann gezogen hat.
Die ¨Weissen Nächte¨ haben wir leider ebensowenig erlebt, wie das Heraufziehen der Brücken, die es den Schiffen ermöglicht, in die Stadt zu gelangen und wieder aus ihr heraus. Aber mit einem kleinen Nico werden eh die Nächte mehr zum Tag gemacht, als man erwarten könnte – zumindest, wenn es sich nicht um das heimische Bettchen handelt.

Go East!

Nach einer “hochwichtigen” Fahrkartenkontrolle besteigen wir den Zug nach Kirov. Über 1200 km und etwas mehr als 21 Stunden sind es bis dorthin. Wir werden also etwas Zeit verbringen an Bord des Zuges. Mal sehen, wie es mit Nico wird. Glücklicherweise müssen wir nicht über Moskau fahren, sondern die Strecke ist eine der wenigen direkten Ost-West-Verbindungen.

ddd

St.Petersburg – Jekaterinenburg


Es geht los ab dem Ladoshky Woksal (Ladoga Bahnhof im Osten). Schier endlos sucht sich der Zug seinen Weg durch die Aussenbezirke. Hässliche Industrieanlagen, dann fahren wir ein letztes Mal über die Newa und bald geht es nur noch durch endlose Landschaft.
Die Schaffnerin kommt herein, kontrolliert noch einmal die Fahrkarten und überreicht Nico ein kleines Rucksäckchen mit Malsachen, Puzzle usw. Ganz so wie im Flugzeug. Nico freut sich und fängt gleich an alles auseinander zu nehmen. Der Zug ist sehr bequem. Alles ist sauber, ruhig, aufgeräumt. Über der Tür ein Fernseher, die Fernbedienung liegt auf dem Tisch. Dann kommt auch schon das Abendessen. Wir können zwischen zwei Gerichten wählen. Das Essen ist übrigens im Preis inbegriffen und lecker. Nico stiefelt noch durch den Waggon und dann beginnt die kräfteraubende Zeremonie das kleine Drachenbaby schlafen zu legen. Es fällt ihm schwer. Er ist zwar hundemüde, aber so viele Eindrücke, die Menschen und dann auch noch der fahrende Zug, das ist schon nicht so leicht für so einen kleinen Mann. Irgendwann hat er es aber geschafft und Olga und ich können auch endlich mal entspannen.
Ich schlafe schlecht, Olga auch. Nur Nico pennt recht gut – bei Mama.

e

Waffen während der WM verboten?

Deswegen hat Olga keinen Platz und eben auch keinen Schlaf. Nach dem Frühstück geht es den Waggon rauf und runter. Zusammen wird aus dem Fenster geguckt und die russische Weite bestaunt. Wir sind zwar noch in Westrussland und damit im eher dicht besiedelten Teil des grössten Landes der Erde, aber es fühlt sich leer an. Dann und wann mal ein Dorf, ein Gehöft, wenige Städte. Dann wieder lange nichts. Zum Mittagessen geht es in den Speisewagen. Hier ist nichts los, wir sind die einzigen Gäste. Vielleicht sind wir etwas früh, vielleicht sind es aber auch die Preise. Für uns ist es gut erschwinglich und sogleich kommt der Küchenchef und Kellner herbeigeeilt und hört gar nicht mehr auf zu reden. Er hat Gesprächsbedarf, anscheindend ist es immer so leer hier. Entweder weil er so viel redet, oder er redet weil es immer so leer ist.

Aber im Ernst: Er ist sehr nett, macht Scherze und serviert uns ein köstliches Essen. Eigentlich sei er Arzt, Infektiologe, aber von dem Geld konnte er nicht leben, deshalb arbeite er hier bei der Bahn. Seit 15 Jahren schon und es gefalle ihm gut, er bekomme gut Geld.
Dann am Nachmittag kommen wir in Kirov an. Der Zug selbst wird noch weiter nach Jekaterinenburg in Sibirien fahren. Auf dem Bahnsteig wartet Olgas Mama, Maxim und Nastja. Endlich angekommen. Nico gluckst vor Freude.

(K)ein Urlaub

Dass es kein Entspannungsurlaub werden würde, war uns vorher klar, aber dass es so anstrengend würde, das hatten wir uns auch nicht gedacht. Im Garten gibt es viel zu tun. Etwa 30 min von der Wohnung weg, liegt er 1-2 km abseits der Hauptstrasse.

ff

Typisch Russland: alles findet Verwendung

Wir wollen Olgas Mama helfen, den Garten zu ordnen, Unkraut zu jäten usw. Der zugewachsene Garten macht es meinem unbeholfenen Stadtauge schwer, die angebauten Pflanzen vom Unkraut zu unterscheiden. Erdbeeren erkenne ich jedoch noch.
Nachdem wir angefangen haben den Wildbewuchs zu “roden”, offenbart sicht und eine richtige ökologische Katastrophe: hier liegen Plastik neben Metallteilen, dann verrostete Fässer mit unbekanntem Inhalt, Teermatten oder Bitumen und alte Plastikflaschen mit Öl oder sonst irgendetwas. Teilweise sind diese Stoffe bereits fest mit dem Boden und den Pflanzen verbacken. All diese Abfälle und Schrott stammen noch vom Vorbesitzer. Alles wurde in die Landschaft und eben auch in die Gärten gekippt. Olgas Mama konnte das mit ihren 1,50 m nicht berwerkstelligen. Warum hat sie den Garten dann nicht verkauft? Oder eben ein anderes Grundstück? Der Blick in die Nachbargärten verrät: es sieht ürberall so aus. Zudem wird gesammelt, was man gerade hat.  Wieso? Nun, für die meisten Russen ist der Garten die “letzte Verteidigungslinie”. In den 90er Jahren hat Olga gelernt, was es heisst zu hungern, tagelang mit leerem Magen ins Bett zu gehen. Das ist für mich in unserer heutigen Zeit unvorstellbar! Viele Russen konnten diese Zeit nur überleben, weil die einen Garten hatten und alles anbauten, was ging. Und der ganze Unrat? Naja, was man hat, das hat man. Eine Logik der Mangelsituation, die wir gar nicht mehr kennen. Doch mal im Ernst: bei uns wird alles, was nicht mehr glänzt gleich weggeworfen. Ist das besser?

Wenn der Urlaub so schön ist, dass man auf die Heimreise wartet…

Wir arbeiten so gut wie wir können. Immer wieder werden wir von heftigen Schauern und Gewittern unterbrochen. Dann kommt wieder die Sonne raus und heizt die Luft auf 29 Grad auf. Dazu die unbeschreibliche Luftfeuchtigkeit. Es ist Wahnsinn! Eigentlich wie in Indien, nur dass wie hier sehr viel weiter nördlich sind, etwa auf der Höhe von Stockholm!
Als wir zurück zur Wohnung kommen, wartet schon Nico auf uns. Er hat gespielt, mit Oma und Uroma getanzt. Momentan ist er manchmal gereizt und widerspenstig. Es hat eine Trotzphase begonnen. Noch schlimmer ist das Schlafengehen, eine Tortur für alle.
Das “Maloche” geht so mehere Tage lang. Wir sind fertig. Körperlich wie emotional. Wir warten auf die Heimfahrt.
Immerhin haben wir trotzdem noch etwas Spass und Freude, wirklich! Wir unternehmen viel mit Olgas Mama und dem Rest der Familie. Olgas Oma kann den Urenkel endlich mal richtig in den Arm nehmen. Die beiden verstehen sich prächtig.

gg

Destillen: “Männliches Hobby” steht auf dem Schild


An einem Abend fahren wir zu Igor und Maxim. Die Mama von Max hat sich gerade den Arm gebrochen und wurde operiert. Igor stellt uns stolz seine neue Destille vor: ein Topf mit Druck und Temperaturanzeige, von seinem Kumpel Sascha mit einem Auspuff zusammengeschweisst, dazu Rohre, Chemieflaschen. Hier wird Schnaps gebrannt! Seit Kurzem ist das ganz legal in Russland. Es gibt sogar eigens spezialisierte Geschäfte.

g

Z.T. selbstgebaut mit Auspuff

Igor ist inzwischen bekannt in dieser 400.00 Einwohnerstadt. Die Leute kennen seinen Schnaps, er ist beliebt – noch sei keiner erblindet, scherzt Olga. Es macht ihm sichtlich Spass  und stolz zeigt er den Saft, der sicherlich alle Mikroben vernichten könnte. Er hat nur das Druckgefäß (oder was es auch immer sein soll) gekauft, der Rest ist zusammengeschustert und mit dem Auspuff gibt es eine ganz besondere Note…

Noch ein paar Tage und es geht wieder heimwärts. Diese Besuche in Olgas alter Heimat sind kein Zuckerschlecken und das kennt sicherlich jeder, der Heimatbesuche machen muss, weil er woanders lebt. Aber es ist wichtig.

ee

Geschafft!

Zurück geht es über Moskau. Dieses Mal haben wir ein ganzes Abteil alleine und die Fahrt ist auch nicht so lang. Dieses Mal schläft Nico bei mir. Wieder kein Schlaf. Naja. Der Zug ist wieder sehr sauber, selbst die Toiletten laden zum Verweilen ein. Mindestens einmal geht während der Fahrt die Fahrkartendame mir dem Staubsauger durch den Wagon und reinigt die Toilette. Da kann die Deutsche Bahn noch einiges lernen…

Am Vormittag kommen wir in der russischen Hauptstadt an. Hier entschliessen wir uns wegen des Verkehrs, abermals die Metro zu nehmen. Die richtige Entscheidung. Auch mit dem grossen Koffer klappt es auf den Rolltreppen gut und Nico erfreut sich wieder an der ¨wilden Fahrt¨.

Recht schnell sind wir am Flughafen und ich komme aus dem Staunen nicht mehr raus: aufgerüstet haben sie hier für die WM. Nicht nur, dass man an Automaten T-Shirts, Kaviar und Kontaktlinsen kaufen kann, sondern auch eine “Boutique” der Firma “Kalashnikow” gibt es hier…ggg

Der Rückflug wird von Aeroflot durchgeführt. Der Flug ist ruhig, das Essen üppiger als bei der billigeren Tochter-Airline. Und schon sind wir wieder in Deutschland…

Insgesamt war es natürlich kein Urlaub im eigentlichen Sinne, aber ein wichtiger Besuch bei der Familie. Allerdings waren die Tage in St. Petersburg wirklich wunderbar. Jetzt werde ich mich erst einmal auf der Arbeit vom Urlaub erholen…

 

P.S.: Demnächst folgen  noch mehr Fotos!

 

 

Von der Kunst sich treu zu bleiben

Teil 3

Und jetzt? Nix mehr mit Unfallchirurgie? Keine Traumatologen-Karriere? Nun ja, wie ich ja bereits eingangs geschrieben hatte, wollte ich das weitere Vorgehen nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf abhängig machen – und natürlich von der Gesundheit. So war die Probezeit auch wirklich eine Probezeit. Kommen wir mal zum Positiven: Das Fach, das “Basteln”, die “Action”, das “Improvisieren”, Medizin zum Anfassen – die Unfallchirurgie ist wirklich eine tolle Sache! Unfallchirurgen sind praktische, lösungsorierte Personen (oder sollten es jedenfalls sein). Das hat mir gefallen und ich hätte es gerne weiter gemacht. Es hat mich begeistert und auch wenn der Druck hoch war, habe ich fast immer Freude gehabt an den praktischen Tätigkeiten.

Ich hatte jedoch nie vor, die Allgemeinmedizin aufzugeben (bei der Zeit, die ich dafür investiert habe, auch nicht besonders clever). Laut Landesärztekammer hätte ich mir das eine oder andere Halbjahr für die Unfallchirurgie auch anrechnen lassen können, sodaß ich nicht die 5 Jahre gebraucht hätte. Soweit die Theorie, welche sich aber an der Realität messen lassen muß.

Continue reading